Adrian Lohmüller : And To Make You Toe The Line
Adrian Lohmüller, Fundament I, Zement, Gut Kartzitz, Rügen 2011
Commissioned by Einszueins, Rügen, Courtesy by Adrian Lohmüller and Sommer & Kohl, Berlin
Der Raum
Besucht man ab Juni den Kunstverein Harburger Bahnhof, so betritt man keinen geschlossenen Raum, der sich von der Außenwelt abkoppelt, sondern einen Raum, der Teil dieser Außenwelt sein will. Die monumentale, neoklassizistische Ausstellungshalle öffnet sich und wird zu einer durchlässigen Architektur: Für die ortspezifische Installation And To Make You Toe The Line werden die großen Fensterreihen der Halle geöffnet und der gesamte Boden wird von einer echten Rasenfläche eingenommen. Der Raum ist in der Totale streng formal-ästhetisch gegliedert: Das Grün des Bodens, das Weiß der Wände und das Braun der denkmalgeschützten Holzdecke ergeben eine klare Trias. Je weiter man jedoch in den Raum eintritt, desto stärker wird die kontemplative Betrachtung durch den Lärm des Bahnhofalltags und die Bewegungen der Züge gestört.
And To Make You Toe The Line
And To Make You Toe The Line – bezeichnet den Auftrag, sich an einer bestimmten Linie entlang zu bewegen oder daran anzutreten. Es ist ein Ausdruck dafür, in die Bahn gelenkt zu werden, sich anzupassen. Die Weite der Installation und der damit suggerierte Freiraum widersprechen genau dieser Aufforderung durch die Abwesenheit vorgegebener Verhaltensnormen. Vielmehr wird die Assoziation zu einer Parkanlage geweckt, die im urbanen
Raum einen bewusst konstruierten und geometrisch abgesteckten Freiraum darstellt.
Exemplarisch für diesen Freiraum steht historisch betrachtet die Speakers’ Corner im Londoner Hydepark: Durch einen Parlamentsbeschluss von 1872 kann hier jeder ohne Anmeldung einen Vortrag zu einem beliebigen Thema halten und auf diesem Wege die Passanten um sich versammeln. Obwohl die Mehrzahl der auftretenden Redner recht heterogen ist, sah die Speakers’ Corner auch Berühmtheiten wie Karl Marx, Lenin und George Orwell und war
Keimzelle politischer Protestbewegungen. 1855 sind von dort aus öffentliche Unruhen der Arbeiterklasse ausgebrochen, die von Karl Marx als Beginn der Englischen Revolution bezeichnet wurden.
Kunstverein Harburger Bahnhof
Der Kunstverein Harburger Bahnhof existiert seit 1999 im ehemaligen Wartesaal für Zugreisende der ersten & zweiten Klasse im Harburger Fernbahnhof, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Preußischen Harburg vor den Toren der Hansestadt erbaut wurde. Ein luxuriöser Ort für Privilegierte, der – in Abgrenzung zum Wartesaal dritter & vierter Klasse – von der strengen gesellschaftlichen Klassenstrukturierung zeugt, die in dem Prunk des Wartesaals ihren Ausdruck fand. Dazu gehörte auch das Servieren fremdländischer, kulinarischer Spezialitäten wie etwa Schildkrötensuppe oder exotische Dekorausstattungen wie importierte Phoenixpalmen: Elemente der Differenzierung, die insbesondere durch eine überbordende Dekadenz die
Klassenunterschiede markierten. Ebenfalls war die historische Wegführung im Harburger Bahnhof eine separierte. Es gab zwei voneinander getrennte Gänge, die jeweils zu einem eigenen Wartesaal 1. & 2. oder 3. & 4. Klasse führten und von denen man direkt auf die unterschiedlichen Abschnitte auf den Gleisen geführt wurde. Dieser regulierten Führung und Separation der verschiedenen Klassen, die jegliche Berührung von vorn herein verhinderte, steht nun die Öffnung und Transparenz des Raumes entgegen. Anstelle der dekadenten Aufführung exklusiver, seltener Phoenixpalmen hält die banale Alltäglichkeit von Rasen Einzug. And To Make You Toe The Line bietet eine Freifläche, auf der keine Linien und Wege vorgeschrieben sind.
Die Frequentierung von Besuchern jedoch kann zum Entstehen von Trampelpfaden führen. Das Rauschen der Güterzüge wird die Kommunikation zeitweise hemmen. Der Rasen muss gehegt und gepflegt werden und so weist die als Freiraum und Öffnung künstlich angelegte Fläche vielmehr auch auf die Grenzen hin, die darin enthalten sind. Diese Begrenzung des Freiraums und das darin enthaltene aggressive Potential wird in der neuproduzierten Videoarbeit
„Speaker’s Corner“ deutlich, die in einem in sich geschlossenen Nebenraum gezeigt wird.
Öffnungszeiten: Mi – So, 14 – 18 Uhr
Kunstverein Harburger Bahnhof
im Bahnhof über Gleis 3 & 4
Hannoversche Strasse 85
21079 Hamburg
kvhbf.de/pt
Kataloge/Medien zum Thema:
Adrian Lohmüller
Adrian Lohmüller:
- art cologne 2015
- Berlin Biennale 2010