Wie erleben wir in einer globalisierten, unüberschaubar gewordenen und digital erweiterten Welt den öffentlichen Raum? Und was hat die Fotografie damit zu tun?
2016 wurde von der Pinakothek der Moderne die Ausstellungsreihe „Fotografie heute – Künstlerische Fotografie im digitalen Zeitalter“ ins Leben gerufen. Der zweite Teil dieser Reihe befasst sich mit der Beziehung zwischen fotografischen Bildern – sowohl bewegten als auch unbewegten – und dem im weitesten Sinne „Öffentlichen“: dem gesellschaftlichen Raum und seinen Infrastrukturen. Das Internet, soziale Medien und andere digitale Technologien haben nicht nur die Fotografie verändert, sondern auch unsere Wahrnehmung des öffentlichen Raums und unsere Denkweise darüber. Die in „Private Public Relations“ gezeigten Werke handeln von diesem Raum: Sie betrachten ihn – anhand fotografischer Mittel – aus einer persönlichen Perspektive. Nähe und Distanz, Intimität und Anonymität koexistieren in diesen künstlerischen Auseinandersetzungen mit einem wachsenden sozialen Terrain. Dazu gehören die Menschen, mit denen wir uns on- und offline weltweit vernetzen und auch die Institutionen und Plattformen, die unser Zusammenleben und unseren Umgang miteinander regeln. In Zeiten von Facebook und Instagram ist jede Nachricht an ein individuelles Profil gebunden. Die Person schwingt als kontinuierlicher Subtext in Form von Likes, Emojis und Kommentaren mit. Informationen in Social-Media-Feeds gehen immer auf ein „Ich“ zurück. Angesichts der veränderten Realität der persönlich-öffentlichen Beziehungen und der herausragenden Rolle, die der Fotografie dabei zukommt, betrachten viele Künstler, die mit Fotografie arbeiten, die Welt heute aus einer persönlicheren Perspektive. Aus diesem Blickwinkel nähern sie sich der Fragmentierung und Polarisierung des globalen gesellschaftlichen Raums. In ihren Arbeiten hat die Fotografie eine relationale, soziale Wendung genommen, die im Zeichen einer subjektiven Beziehung zum Bild steht.
Für ihre neueste Installation haben die in Berlin lebenden Künstler Calla Henkel & Max Pitegoff eine Maschine konstruiert, die Fotografien buchstäblich zirkulieren lässt. Die Bilder zeigen öffentliche Institutionen, wie sie uns täglich begegnen könnten: Eine Zeitung, die gerade gelesen wird, oder Regierungsgebäude aus dem typischen Blickwinkel eines Passanten. Diese Begegnungen muten seltsam friedlich an, scheinbar unberührt vom polarisierten politischen Klima unserer Zeit und der fieberhaften Unerbittlichkeit seiner Social-Media-Feeds. Aber sind die überlieferten Einrichtungen des öffentlichen Raums genauso überholt, langsam und letztendlich zwecklos wie die Maschine, durch die ihre Abbilder jetzt laufen? Worin genau besteht die Funktion des Kreislaufs, den diese Maschine so gewissenhaft vollführt? Haben die Einrichtungen ihre Funktion verloren, oder ist gerade ihr Anachronismus ihre Rettung?
Mit neuen Institutionen – oder „Plattformen“, wie man heute sagt – setzt sich die Installation „Free WiFi 4“ (2018) von Nina Könnemann auseinander. Für diese Arbeit, die auf einer Performance während der Ausstellungseröffnung basiert, inszeniert Könnemann Livebegegnungen mithilfe einer App namens Periscope, einer Kombination aus Videostreaming und Livechat. Über diese Inszenierungen verbindet die Künstlerin Menschen miteinander, die sich in öffentlichen und halböffentlichen Räumen mit freiem WLAN aufhalten. Dieses virtuelle Treffen entfaltet sich als ein visueller, textueller und akustischer Raum, der in der realen Welt einem Niemandsland der Orte entspricht. Es handelt sich um Orte, an denen das Internet noch gratis – ein öffentliches Gut – ist, wie McDonalds-Restaurants, Apple Stores und öffentliche Toiletten.
Eine neue Art von Straßenfotografie verfolgt Erin Jane Nelson in ihrer Serie „Petrichor“ (2015). Ihre Objekte weisen unmittelbare Bezüge zu handwerklicher Arbeit und digitalen Technologien auf. Nelson thematisiert, wie die Tech-Industrie und die Start-up-Community den urbanen Raum in San Francisco vereinnahmt haben, der Stadt, in der sie früher gelebt und gearbeitet hat: eine Erfahrung voller Widersprüche. Das Versprechen von der schwerelosen, fließenden, digitalen Erfahrung, das die Tech-Industrie so plastisch vertritt, wird hier dem alltäglichen Erleben einer Stadt gegenübergestellt, die diese Industrie besetzt und deren Lebensraum sie umwälzt – dem Erleben eines Ortes, an dem sich materielle Existenz auf sehr unterschiedlichen Ebenen entfaltet.
Der Humanismus neuer Prägung, den Massimo Grimaldi praktiziert, nimmt die Idee von einer globalen Öffentlichkeit ernst, an der wir alle durch die Nutzung des Internets teilhaben. Durch eine einfache Gegenüberstellung lässt der italienische Künstler das „Außen“ wirkungsvoll auf das „Innen“ stoßen, das „Sie“ auf das „Ich“: Auf den Displays nagelneuer Apple-Computer zeigt er Bilder von Patienten und Pflegekräften aus Krankenhäusern in Entwicklungsländern (in diesem Fall aus Bangui in der Zentralafrikanischen Republik). Mit der Kombination dieser kontrastierenden Elemente hinterfragt Grimaldi die Auswirkungen unserer westlichen Gesellschaft und deren Faszination von neuester Computertechnologie und innovativem Design auf die Wirklichkeit von Ländern mit einer gänzlich anderen ökonomischen Realität.
Die Arbeit „rainy day/gender“ (2017) von Sadie Benning besteht aus sieben kleinformatigen Fotografien von sieben verschiedenen Stadtszenen im Regen. In den auf Tafeln montierten Bildern, aufgenommen durch Regentropfen auf einer Windschutzscheibe, erscheinen deren Figuren und Gegenstände surreal und wandelbar. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, wie diese Aufnahmen die verschiedenen Ebenen zwischen dem betrachtenden Auge und der abgebildeten Szene betonen: die Oberfläche des auf die Tafel montierten Abzugs, der nassen Windschutzscheibe und der digitalen Kamera. Im Ergebnis werden die für unseren Bilderkonsum so wichtig gewordenen Oberflächen – speziell die Bildschirme digitaler Geräte – sichtbar gemacht. Dabei entsteht ein Hin- und Herpendeln zwischen den verschiedenen strukturgebenden Ebenen der Fotografie: dem Objektiv, durch das die Aufnahme gemacht wurde, dem Display, auf dem sie vermutlich gezeigt wird, und der Fensterscheibe, durch die hindurch die Szene betrachtet wird.
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