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Der Nahostkonflikt und die deutsche Kulturszene nach dem Hamas-Angriff

Eingabedatum: 13.03.2025


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Der 7. Oktober 2023 – ein Tag, der sich tief in das kollektive Gedächtnis Israels und der Welt eingebrannt hat. Der brutale Terroranschlag der Hamas erschütterte nicht nur den Nahen Osten, sondern warf auch einen langen Schatten auf die deutsche Kulturlandschaft. Die deutsche Regierung erklärte die Verteidigung Israels zur Staatsraison und sagte umfassende militärische Hilfe zu. Gleichzeitig wurde jede kritische Auseinandersetzung mit der Politik Israels mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert. In diesem aufgeheizten Klima fand sich der Kunstbereich in einem Spannungsfeld wieder, das die Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit, die Definition von Antisemitismus und die Rolle politischer Positionierung im Kunstkontext neu entfachte. Ein Jahr später, am Jahrestag des schrecklichen Angriffs, der für viele Israelis ein Trauma bedeutete und alte Wunden aufriss, steht die deutsche Kulturszene in mehrfacher Hinsicht auf dem Prüfstand.

Ausstellungsabsagen und Boykottaufrufe


Schock und Verunsicherung
Die deutsche Kulturszene reagierte auf den Hamas-Angriff und den folgenden Krieg mit einer Mischung aus Schock, Betroffenheit und Verunsicherung. Zahlreiche Kunstschaffende und Institutionen verurteilten den Terror der Hamas während andere mit klaren Statements zögerten. Diese Zurückhaltung ist zum Teil auf die Angst vor Boykottaufrufen und Anfeindungen zurückzuführen. Hinzu kommt die Sorge vor einer Zunahme antisemitischer Übergriffe in Deutschland, die jüdische Menschen seit dem 7. Oktober verstärkt erleben.

Konkrete Auswirkungen
Die Verunsicherung im Kunstbereich manifestierte sich in verschiedenen Formen. Ausstellungen propalästinensischer Künstler wurden abgesagt, Konferenzen verschoben und Preise zurückgezogen. Die südafrikanische Künstlerin Candice Breitz, selbst Jüdin, wurde fälschlicherweise mit der BDS-Bewegung in Verbindung gebracht und sah sich mit Boykottaufrufen konfrontiert. Auch die Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse 2023 wurde verschoben. Diese Beispiele zeigen, wie der Nahostkonflikt die Kulturszene spaltet und zu einer Verhärtung der Fronten führt. Boykottaufrufe und Störaktionen von beiden Seiten verhindern eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema und schränken die Kunstfreiheit ein.

Kritik an Israel und die Antisemitismus-Debatte
Die Grenzen der Kritik

Ein zentrales Problem in der Debatte ist die Gleichsetzung von Kritik an Israel mit Antisemitismus. Zwar ist die Kritik an der Politik der israelischen Regierung legitim und notwendig, doch die Grenze zum Antisemitismus ist dort überschritten, wo Israel das Existenzrecht abgesprochen oder das Land mit Nazi-Deutschland verglichen wird.

Die BDS-Bewegung
Die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), die zum Boykott Israels aufruft, wird in Deutschland von vielen als antisemitisch eingestuft. Die Kritik bemängelt, dass die Bewegung Israel dämonisiere und einen doppelten Standard anlege. Die BDS-Bewegung selbst weist den Vorwurf des Antisemitismus zurück und vergleicht ihr Anliegen mit dem Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Dieser Vergleich ist jedoch problematisch, da er die historische und politische Komplexität des Nahostkonflikts ignoriert.

Vielfältige Perspektiven
Es ist wichtig zu betonen, dass es innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft unterschiedliche Perspektiven auf den Konflikt gibt. Nicht alle Palästinenser unterstützen die Hamas oder die BDS-Bewegung. Viele setzen sich für eine friedliche Lösung des Konflikts und ein Zusammenleben mit Israel ein.

Die Antisemitismusdefinition der Bundesrepublik und ihre Relevanz
Die IHRA-Definition

Die Antisemitismusdefinition der Bundesrepublik basiert auf der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Sie beschreibt Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“. Dieser Hass kann sich in Wort oder Tat gegen jüdische Personen, ihr Eigentum oder jüdische Einrichtungen richten. Die Bundesregierung hat die Definition um den Zusatz erweitert, dass auch der Staat Israel Ziel solcher Angriffe sein kann.
Die IHRA-Definition ist nicht rechtsverbindlich, wird aber von der Bundesregierung als wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Antisemitismus angesehen. Sie wird in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens angewandt, unter anderem in der Bildung, Justiz und Polizei.

Kontroverse im Kunstbereich
Im Kunstbereich ist die Relevanz der Antisemitismusdefinition umstritten. Während Befürworter die Definition als wichtiges Instrument zur Sensibilisierung für Antisemitismus sehen, befürchten Kritiker eine Einschränkung der Kunstfreiheit und eine Stigmatisierung israelkritischer Künstler und Künstlerinnen. Die Resolution des Bundestags zum Schutz jüdischen Lebens, die sich auf die IHRA-Definition bezieht, wird auch von einigen israelischen Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Sie befürchten, dass die Resolution dazu benutzt werden könnte, die Arbeit von Organisationen zu delegitimieren, die die israelische Politik kritisieren.

Perspektiven für den Kunstbereich
Herausforderungen und Lösungsansätze
Der Nahostkonflikt stellt den Kunstbereich vor große Herausforderungen. Wie kann die Szene mit den unterschiedlichen Positionen umgehen, ohne die Kunstfreiheit einzuschränken oder Antisemitismus zu fördern? Wie kann ein offener Dialog über den Konflikt ermöglicht werden, der die Komplexität der Situation berücksichtigt?
Folgende Lösungsansätze könnten dazu beitragen, den Kunstbereich als Raum für kritische Auseinandersetzung und Dialog zu erhalten:
Differenzierung: Es ist wichtig, zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus zu unterscheiden. Die IHRA-Definition kann dabei als Orientierungshilfe dienen, sollte aber nicht dazu führen, dass jede Kritik an Israel unter Generalverdacht gestellt wird.
Dialog: Der Kunstbereich sollte ein Ort sein, an dem unterschiedliche Perspektiven auf den Nahostkonflikt ausgetauscht werden können. Veranstaltungen, Diskussionen und Ausstellungen können dazu beitragen, den Dialog zu fördern und Verständnis für die jeweiligen Positionen zu schaffen. Alle Stimmen sollten Gehör finden, auch die derjenigen, die sich kritisch gegenüber der israelischen Politik äußern.
Sensibilisierung: Kunstschaffende und Kulturinstitutionen sollten sich mit den verschiedenen Formen von Antisemitismus auseinandersetzen und dafür sensibilisieren, wie sich Judenfeindlichkeit im Kunstkontext äußert. Workshops, Fortbildungen und Publikationen können dazu beitragen, das Bewusstsein für Antisemitismus zu schärfen.
Zusammenarbeit: Kunstschaffende und Kulturinstitutionen sollten mit Organisationen zusammenarbeiten, die sich für die Bekämpfung von Antisemitismus und die Förderung eines friedlichen Zusammenlebens einsetzen. Durch gemeinsame Projekte und Veranstaltungen kann ein breites Publikum erreicht und für die Thematik sensibilisiert werden.

Kunst als Brücke
Der Nahostkonflikt wird die deutsche Kulturszene noch lange beschäftigen. Es ist an den Künstlern und Institutionen, die Herausforderungen anzunehmen und den Kunstbereich als Raum für kritische Auseinandersetzung und Dialog zu erhalten. Kunst kann dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie Brücken zwischen den verschiedenen Positionen baut und zum Verständnis für die jeweilige Perspektive beiträgt. Gerade in Zeiten politischer Polarisierung ist es wichtig, dass die Kunst ihre Stimme erhebt und sich für eine offene und tolerante Gesellschaft einsetzt.


ct

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