Mel Bochner (geb. 1940 in Pittsburgh, Pennsylvania) gilt als einer der Begründer der Konzeptkunst, die zu Beginn der 1960er-Jahre die Vorrangstellung der Malerei in der Kunst radikal aufbrach. Bochner realisierte dies unter anderem durch die Verwendung von Sprache in seinen Arbeiten. In der jüngeren Werkentwicklung beschäftigt er sich zunehmend mit einer Überprüfung des einst verschmähten Mediums, wobei ihm die eigene konzeptuelle Bildsprache zu Erkenntnissen über die neuen Möglichkeiten der Malerei verhilft. Die erste Einzelausstellung in Deutschland seit über 15 Jahren (Lenbachhaus 1996) zeigt die Beziehungen auf, die zwischen Bochners Verwendung von Text und Farbe in den 1960er/70er-Jahren und seinem durchaus malerischen Werk der vergangenen zehn Jahre bestehen. Sie umfasst verschiedene Medien, von Skulptur und Zeichnung über Installation und Wandmalerei, bis hin zu Fotografie und Leinwandmalerei.
Bochners erste Einzelausstellung fand 1966 in der School of Visual Arts Gallery in New York statt, wo er als Kunstgeschichtsdozent unterrichtete. Auf Sockeln präsentierte er vier identische Ringbücher mit je 100 Kopien von verschiedenen Arbeitszeichnungen und Skizzen. Diese stammten von teils befreundeten Künstlerkollegen wie Donald Judd, Dan Flavin, Sol LeWitt, Eva Hesse und Robert Smithson sowie von einigen Wissenschaftlern, die er um Beiträge für eine Ausstellung zum Thema 'Arbeitsstudien' gebeten hatte. Da dem Veranstalter die finanziellen Mittel fehlten, um die Arbeiten für eine angemessene Präsentation zu rahmen, fotokopierte Bochner sie und heftete die Blätter in alphabetischer Reihenfolge in den Ringbüchern ab. Unter dem Titel "Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily Meant to Be Viewed as Art" (1966) lud Bochner die Ausstellungsbesucher ein, in den gesammelten Werken zu blättern und vom passiven Betrachter zum aktiven Leser zu werden. Gleichzeitig definierte er den Begriff 'Autorschaft' neu: Obwohl er die Ausstellung als Kurator betreute, wurde sie gleichermaßen zu seinem eigenen Kunstwerk. Die Künstler, denen er vor der Eröffnung die Originale zurückgab, begrüßten diese Idee. Allein Donald Judd war irritiert, dass Bochner die Ausstellung als seine eigene bezeichnete. Sie gilt als erste Ausstellung der Konzeptkunst und wegweisend für ihre Entwicklung.
Die Thematik der Reproduktion und Transformation beschäftigte den Künstler zu dieser Zeit auch auf dem Gebiet der Fotografie. "36 Photographs and 12 Diagrams" (1966/2003) basiert auf zwölf Diagrammen, die sich aus sieben mal sieben Kästchen im Quadrat zusammensetzen und mit den Zahlen 1 bis 4 versehen sind. Die Zahlen stehen jeweils für die Anzahl an übereinandergestapelten Holzklötzen, die Bochner entsprechend der Diagramme immer wieder neu anordnet. Die Figuren lässt er nacheinander professionell fotografieren und schafft so eine Dokumentation aus jeweils direkter Draufsicht, seitlicher Ansicht und Vogelperspektive. Durch das Zusammenspiel von gezeichnetem Schaubild und fotografischer Entsprechung zeigt Bochner, wie die Fotografie perspektivische Genauigkeit und die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu veranschaulichen, nur begrenzt vereint. Dieses Projekt war Auftakt zu einer Reihe experimenteller Fotoarbeiten, die sich mit Farbe, Textur und Lichtverhältnissen auseinandersetzen, wie "Transparent and Opaque" (1968/2008) und Objekte der Serie "Color Crumple" (1967).
Wie die Fotografie nimmt der Künstler auch die Malerei ins konzeptuelle Visier. Eine seiner bekanntesten Arbeiten ist "A Theory of Painting" (1969-70), eine von Henry Matisse und Jackson Pollock inspirierte Bodenarbeit, die er für das Haus der Kunst aus einer aktuellen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung neu installieren wird. Die Arbeit besteht aus vier gleichgroßen mit Zeitungsseiten ausgelegten Flächen, von denen die äußeren beiden sauber begrenzte Rechtecke bilden, und die inneren beiden von kreuz und quer ausgebreitetem Papier nur grob in ihrer rechteckigen Form angedeutet sind. Alle vier Rechtecke werden mit blauer Farbe besprüht: ein geschlossenes farbiges Rechteck bedeckt jeweils ein äußeres und ein inneres Rechteck, und ein zerstückeltes, rechteckiges Formenfragment findet sich auf den übrigen beiden Rechtecken. So wird die Figur-Grund-Beziehung in vier unterschiedlichen Varianten aufgezeigt. Eine Wandbeschriftung fasst diese Spielerei in konkrete Worte: Cohere - Disperse, Disperse - Cohere, Disperse - Disperse, Cohere - Cohere.
Mel Bochner beschäftigte sich in den frühen Jahren seiner Karriere auch mit Mathematik. Sein besonderes Interesse galt arithmetischen Zahlenreihen und geometrischen Formen, mit denen er in Zeichnungen und Bodeninstallationen aus Steinen, farbigem Glas und Kreide experimentierte und so zufällige Muster schuf. In "Meditation on the Theorem of Pythagoras" (1972/2010) setzt er sich mit dem Satz des Pythagoras auseinander: Mit Kreide zeichnet er auf dem Boden ein rechtwinkliges Dreieck und ordnet auf jeder Seite mit Hilfe von Steinen ein Quadrat aus 5 x 5, 4 x 4 und 3 x 3 Glassteinen an. Nach der Summe der Gleichung a2 + b2 = c2 müsste die Anzahl der Steine 50 betragen, tatsächlich sind es aber nur 47. Hier setzt Bochner einem intellektuellen Rätsel, das womöglich einfach zu lösen wäre, ein visuelles Erlebnis entgegen, das die Aufmerksamkeit des Betrachters von der Geometrie auf die Sinnlichkeit von Farbe lenkt. Auch in den Arbeiten "If/And/Either/Both (Or)" und "Event Horizon" (beide 1998) spielt er mit der Relevanz mathematischer Grundsätze und Maßangaben.
Für Bochner als eine der Gründerfiguren der Konzeptkunst ist es erstaunlich, dass er Farbe nicht nur sporadisch, sondern in konsequenter Regelmäßigkeit verwendet. In seinem Werk der letzten Jahre tritt sogar eine Farbigkeit in den Vordergrund, die auf höchstem Niveau mit Sprache und Text zu konkurrieren scheint. Die Serie der Thesaurus Paintings zeigt Aneinanderreihungen von Wörtern auf großformatigen Leinwänden, die an eine mechanisch akkurat ausgeführte Fleißarbeit erinnern. In knalligen Farben gemalte Buchstaben wetteifern mit ebenso buntfarbigen Hintergründen und fordern vom Betrachter gleichzeitiges Lesen und Betrachten. Bochner nennt dies "den Konflikt zwischen Farbe als Wahrnehmungsfarbe und Farbe als Grammatik." Die malerischen Arbeiten sind von Bochners Wortporträts der 60er-Jahre beeinflusst, in denen er das Werk befreundeter Künstler wie Sol LeWitt und Eva Hesse mit Wortketten zeichnerisch beschrieb. In den neueren Arbeiten verbindet er nun Farbe und Text plakativ miteinander, um den Betrachter visuell und intellektuell herauszufordern. Zu entziffern sind Wortketten wie:
"AMAZING! AWESOME! BREATHTAKING! HEARTSTOPPING! MIND BLOWING! OUT-OFSIGHT! COOL! WOW! GROOVY! CRAZY! KILLER! BITCHIN'! BAD! RAD! GNARLY! DA BOMB! SHUT UP! OMG! YESSS!"
Eher harmlose und traditionelle Begeisterungsrufe wandeln sich sukzessive zu modernen, umgangssprachlichen Ausdrücken, die sich in zeitgenössischen Synonymwörterbüchern nachschlagen lassen. Die grelle Farbigkeit von Buchstaben und Zeilenhintergrund wirkt wie ein optischer Verstärker der Ausdrücke, tritt jedoch nach längerer Betrachtung so radikal in den Vordergrund, dass der Text von der Farbe verschluckt zu werden droht - die Botschaft versinkt in der Reizüberflutung.
In der Serie "If The Color Changes" (1997-2000) zitiert Bochner aus einer Abhandlung Ludwig Wittgensteins zum Thema Farbe: "Beobachten ist nicht das Gleiche wie Betrachten oder Anblicken (...) Ändert sich die Farbe, so betrachtest du nicht mehr die, welche ich meinte (...)." Während sich der Philosoph mit verschiedenen Sehprozessen in der Theorie beschäftigt, übersetzt Bochner dessen Text in ein malerisches Konzept. Er lässt die deutsche Originalpassage seine englische Übersetzung überlappen, um den Betrachter zur aktiven Beobachtung des komplexen Text-Bildes zu zwingen - was dazu führt, dass dieser den Sinn des Texts in Frage stellt.
Auch in "The Joys of Yiddish" (2006) sind Farbe und Text eng miteinander verknüpft. Ursprünglich entwarf Bochner das zweifarbige Spruchband für das Spertus Institute of Jewish Studies in Chicago. Für die Ausstellung im Haus der Kunst wird das überdimensionale Werk an der Fassade der Vorderseite des Gebäudes installiert. Die Wortkette enthält umgangssprachliche Begriffe aus dem Jiddischen, die in das heutige US-amerikanische Englisch Eingang gefunden haben: z.B. KIBBITZER, KUNI LEMMEL, DREYKOP, ALTER KOCKER, MESHUGENER, PISHER (Schlaumeier; Einfaltspinsel; jemand, der einem Kopfschmerzen bereitet; alter Knacker, Verrückter, Hosenscheißer). Die Farben des Spruchbandes - gelb auf schwarz - sollen an die Armbinden und Aufnäher erinnern, mit denen die Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung stigmatisierten. Sie stehen im Spannungsverhältnis zu den Worten, mit denen die Bewohner der jüdischen Ghettos im Dritten Reich ihrer Einigkeit und ihrem Trotz Ausdruck verliehen. Diese Verknüpfung der Farbe der Täter mit der Sprache der Opfer ist eine für Bochner typische subtile Provokation, die sich durch sein gesamtes Werk zieht.
Stiftung Haus der Kunst München
Prinzregentenstraße 1
80538 München
http://www.hausderkunst.de
PM
Kataloge/Medien zum Thema:
Bochner
neurotitan
ifa-Galerie Berlin
Haus am Lützowplatz / Studiogalerie
Galerie Johannisthal
Urban Spree Galerie