In Kooperation mit dem Siemens Arts Program zeigt die Schirn Kunsthalle die Ausstellung "Auf eigene Gefahr", die anhand von künstlerischen, partizipatorische Strategien das aktive Verhalten des Betrachters thematisiert.
Pressemitteilung / Auszug: "Das "kalkulierte" Risiko scheint heute einer der zentralen Erfahrungswerte der westlichen Gesellschaft zu sein, die Freizeitrituale wie Bungee-Jumping, Paragliding oder andere Extremsportarten als Symptome produziert. Vor dem Hintergrund einer solchen Risikokultur beschäftigt sich die Ausstellung "Auf eigene Gefahr", die von der Schirn Kunsthalle Frankfurt in Kooperation mit dem Siemens Arts Program erarbeitet wurde, mit einer speziellen Form der Kunst seit den 90er Jahren, die den Betrachter zum Benutzer werden lässt. Künstler wie Carsten Höller, Christoph Büchel, Jeppe Hein, Ana Maria Tavares oder Künstlergruppen wie das Critical Art Ensemble oder gelatin haben für die Ausstellung Konstellationen geschaffen, die attraktiv genug sind, um den Besucher aus seiner konsumierenden Passivität heraustreten zu lassen und dazu zu bringen, sich für das Risiko der Mitwirkung zu entscheiden. Der Antrieb dazu kann in einer außergewöhnlichen Erfahrung wie etwa dem Durchqueren vernebelter Räume oder dem Erkunden geheimnisvoller Labyrinthe liegen, aber auch von einer spielerischen Situation oder einem erhofften Erkenntnisgewinn ausgehen.
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Der "flexible Mensch" der westlichen Gesellschaft bewegt sich in der Globalisierung zwischen "Essen ohne Risiko", "Reisen ohne Risiko", "Spielspaß ohne Risiko", "Seitensprung ohne Risiko" oder versucht sich gar am "Risiko der Existenzgründung", bemüht sich um "Risikocontrolling" und "Risikomanagement" – will man der reichlich vorhandenen Ratgeberliteratur Glauben schenken. In der Multioptionsgesellschaft scheint der Einzelne zwischen nahezu grenzenlosen Möglichkeiten die Wahl zu haben und muss somit auch grenzenlose Risiken bzw. deren Folgen auf sich nehmen. Durch die Entscheidungsmöglichkeit, die es ihm erlaubt, das Risiko zu kalkulieren, zu steuern oder zu vermeiden, unterscheidet sich das Risiko von der Gefahr, die als etwas von außen Kommendes, vom Individuum nicht mehr Beeinflussbares und passiv Erlebtes erscheint, etwa in der Gestalt unkontrollierter Folgen von Umweltzerstörung, kriegerischer Aggression oder der bürokratischen Determinierung der Privatsphäre. Risiken einzugehen ist also ein aktiver Vorgang. Damit ist auch der zum aktiven Benutzer gewordene Betrachter der Ausstellung "Auf eigene Gefahr" angesprochen.
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Wie gering die Spielräume für Kontrolle, Handlung und Entscheidung im täglichen Leben sein können, zeigt vielleicht am deutlichsten die Arbeit der US-Aktivisten-Künstlergruppe Critical Art Ensemble, die sich in ihrer für die Ausstellung geschaffenen Arbeit mit den Praktiken der "Biopolitik", dem Zugriff von staatlichen und ökonomischen Strukturen auf den Körper des Einzelnen und der Bevölkerung, befassen. In einem mobilen öffentlichen Labor werden die Besucher aufgefordert, Lebensmittel auf deren genetische Manipulation zu testen und letztlich den Konsum "auf eigene Gefahr" zu reflektieren. Um das Phänomen der Kontrolle und Überwachung geht es in der Installation "Embedded" von Julia Scher: An Betten montierte Kameras filmen alles, was sich auf ihnen abspielt, und geben es zeit-verzögert auf Monitoren wieder. Entscheidet sich der Besucher in einem exhibitionistischen Akt, näher auf das Kunstwerk einzugehen, erfährt er, wie ihm die Herrschaft über das eigene Bild auf plakative Weise entzogen wird. Er überantwortet sich freiwillig einem Überwachungssystem – eine Entscheidung, die einem in der Realität nicht immer so eindeutig in die Hände gegeben wird.
Die Aufhebung physischer und psychischer Distanz fordert Camilla Dahl mit der Arbeit "Champagne Bar" heraus. Eine Theke in anatomisch fließender Form bietet den Besuchern die Möglichkeit, mittels Saugern Champagner zu konsumieren, gleichzeitig zwingt sie sie bei der Einnahme in eine Haltung der Unterwerfung. Dieses Spiel ist ebenso dekadent und regressiv wie betont voyeuristisch – riskiert wird die eigene Identität innerhalb der sozialen Regeln und Konventionen.
Eine andere Art der Selbstreflexion bietet die Arbeit "Landscape with Exit and Exit II (Rotterdam Lounge)" von Ana Maria Tavares. Zwei Rollfeldtreppen flankieren einen großformatigen, auf dem Boden liegenden Spiegel. Schwankende Stufen führen den Besucher nach oben und dazu, sich selbst zu exponieren. Langt er dort an, erwartet ihn wahlweise die Konfrontation mit dem Gegenüber auf der anderen Treppe oder mit sich selbst im Spiegel. Letzteres zwingt ihn jedoch in die Instabilität. Einmal mehr wird "Ich sehe mich selbst sehend" zu einer riskanten Erfahrung.
Dem Sog der Tiefe in Form einer virtuellen Achterbahnfahrt mit sich rasant windenden Schienen wird der Besucher in der Computeranimation "Funhouse" des Norwegers Sven Påhlsson ausgesetzt. Die raumgreifend projizierten Bilder vermitteln eine unheimliche Atmosphäre latenter Bedrohung. Der Betrachter wird ins Bild hineingezogen, zwischen "real" motivierter Angst und durch computergenerierte Welten hervorgerufenen Empfindungen gibt es kaum noch einen Unterschied.
Um die Aufhebung von Grenzen geht es auch bei der Arbeit von Christoph Büchel. Wer seine Montage aus mehreren Räumen betritt, wird von dem chaotischen Zustand erfasst und Teil eines überbordenden Etwas, das die Autonomie des Besuchers systematisch untergräbt. Am Ende erscheint selbst die Alltagswirklichkeit als bedrohliche Kulisse, denn es lässt sich nur schwer entscheiden, wo das simulierte Chaos aufhört und die reale Welt beginnt.
Ein Raumgefühl anderer Art evoziert die Installation von Ann Veronica Janssens. Der Betrachter steht durch eine Glaswand getrennt einem mit dichtem Nebel gefüllten Raum gegenüber. Er hat die Wahl, den Raum von außen zu betrachten oder in das Innere vorzudringen und sich der irritierenden Atmosphäre, in der Raum und Zeit ihre Präzision verlieren, auszusetzen.
Inmitten der Arbeit sieht auch Jeppe Hein den Besucher. Ein sechseckiger Brunnen, der eigens für die Rotunde im Außenbereich der Schirn angefertigt wurde, bildet an jeder Seite eine senkrecht nach oben gerichtete Wasserwand. Immer wenn sich ein Besucher den kräftigen Wasserstrahlen nähert, versiegen diese und geben den Weg in das Zentrum des Brunnens frei. Ist er eingetreten, steigt hinter ihm die Wasserwand wieder empor. Erneut muss er sich dieser nähern, damit er den Brunnen trockenen Fußes verlassen kann.
Der Einsatz des Körpers ist auch bei der Arbeit von Henrik Plenge Jakobsen gefragt. Auf dem Dachgepäcksträger eines Autos montierte Lachgasflaschen werden über Schläuche mit dem Wageninneren verbunden und bieten den "Fahrgästen" Gelegenheit, in den Genuss einer kurzen Euphorie zu kommen.
Carsten Höller hingegen bietet dem Besucher an, sich eine von 20.000 weißen Placebotabletten, die durch ein gläsernes Aquarium fliegen, zu greifen und diese einzunehmen. Obwohl die "Kunstpatienten" wissen, worum es sich bei den Pillen handelt, wirken sie angeblich doch – fragt sich, wie.
Offen ist auch die Frage, was gelatin eigentlich machen wird. Die österreichische Künstlergruppe hat ihre Arbeit einmal als Ausdruck des Wunsches beschrieben, Situationen zu schaffen, die wir vermissen, in denen wir sein möchten. Und so bringen gelatin uns in Situationen, von denen wir nie im Leben gedacht hätten, dass wir sie vermissen könnten, die uns aber nachhaltig beeindrucken."
Ausstellungsdauer: 27. Juni –7. September 2003
Öffnungszeiten: Di., Fr.–So. 10–19 Uhr, Mi. und Do. 10–22 Uhr.
Schirn Kunsthalle Frankfurt | Römerberg | 60311 Frankfurt
schirn.de
ct
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