Nahezu jeder Mensch kennt das Bedürfnis nach einer selbstbestimmten Auszeit. Im Allgemeinen steht eine ›Auszeit‹ für einen temporäreren Ausstieg aus dem kontinuierlichen Zeitmanagement und charakterisiert eine Zeitspanne, die nicht primär von der objektiven Zeitmessung, sondern dem persönlichen Zeitempfinden geprägt ist. Die internationale Gruppenausstellung »Auszeit. Von Pausen und Momenten des Aufbruchs« versteht sich als Einladung, um – vor dem Hintergrund einer sich zunehmend beschleunigenden Gesellschaft, die sich aktuell im Ausnahmezustand befindet – über die Bedeutungsebenen und Potenziale einer Auszeit nachzudenken.
In den vier Ausstellungskapiteln »Freizeitidyll: von Alltagsfluchten und Orten der Auszeit «, »Why work? Vom Wert der Auszeit«, »Wahrnehmungsverschiebungen: Zum Eigensinn der Kunst« und »How to Be in the Moment? Von Präsenzerfahrungen und Strategien der Entschleunigung« wird den Fragen nachgegangen, welche Formen die Auszeit annehmen und welche Funktionen sie erfüllen kann. Die Werke verdeutlichen die genussvollen wie janusköpfigen Elemente des Freizeit- und Vergnügungsgeschehens und stellen kritisch wie humorvoll die Taktung einer Leistungsgesellschaft in Frage.
»Auszeit. Von Pausen und Momenten des Aufbruchs« schlägt einen Bogen von Werken der 1910er-Jahre bis in die Gegenwart und verweist aus der Perspektive der Kunst auf den mehrdeutigen Charakter einer Auszeit. So kann dem Pausieren das Potenzial für einen Aufbruch innewohnen oder ein Ausbruch aus der Betriebsamkeit eine Form der Verweigerung sein. Bereits die expressionistischen Werke der Künstlergruppe »Brücke« (1905–1913) im ersten Ausstellungsteil »Freizeitidyll: von Alltagsfluchten und Orten der Auszeit« versinnbildlichen Auszeiten des Vergnügens und des Aufbegehrens. Die Darstellungen der Ausflüge in die Natur zu Beginn des 20. Jahrhunderts – wie das Nacktbaden an den Moritzburger Teichen – zeugen sowohl von der erholsamen Pause als auch von der kompromisslosen künstlerischen Entfaltung und dem Entwurf einer utopischen Gegenwelt zur fortschrittsorientierten,
reglementierten Gesellschaft im Wilhelminismus. Eine Auszeit im Freien veranschaulichen auch die Fotografien von Barbara Klemm (*1939 DE), die das Picknicken in verschiedensten Kulturkreisen in den Mittelpunkt rücken. Grace Weavers (*1989 US) großformatige Gemälde lenken hingegen den Blick auf das für ihre eigene Generation charakteristische Freizeitverhalten. Mit einer Mischung aus Amüsement und selbstoptimierendem Körperkult demonstrieren die Figurenensembles wertfrei und unbeschwert eine Doppelbödigkeit der kleinen Momente zwischen Genuss und Kommerz.
Neben dem Aufbruch in die Natur entfalteten sich aufkeimende Freiheiten Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere in der Nacht. Im städtischen Umfeld waren es die Cafés und Bühnen, die Ernst Ludwig Kirchners (1880–1938 DE) Aufmerksamkeit auf sich zogen. Seine Arbeiten zeugen von ausgelassenen Abendstunden, die die Lebensschwere in der gesellschaftlich aufgeheizten Stimmung im Berlin der Jahre 1913/14 Jahre vergessen ließen. Zehn Jahre später fand Otto Dix (1891–1969 DE) ebenfalls auf nächtlichen Ausflügen seine Bildmotive und blickte auf die Nöte der nach dem Krieg in prekäre Verhältnisse geratenen Frauen auf der Straße und in den Bordellen. Dass das pulsierende Nachtleben zweifelsohne zu den vielfältigen Ausdrucksformen einer Auszeit gehört, lässt sich an Mark Leckeys (*1964 UK) legendärem Film Fiorucci Made Me Hardcore (1999) aus gefundenem Material nachvollziehen, einer Hommage an die britische Clubkultur seit den 1970er-Jahren. Das überdimensionierte Stoffkaninchen von Cosima von Bonin (*1962 KE) liegt hingegen Techno-Beats hörend schlaff auf einem Tisch und trägt – wie eine Parole – die Buchstaben SLOTH (Trägheit, Faulheit, Faultier) auf den Pfoten. Von Bonin, die in zahlreichen ihrer Arbeiten das ›Recht auf Müßiggang‹ einfordert, vereint in Purple Kikoy Sloth Rabbit (2010) die verschiedenen Pole einer Auszeit, die vom rasenden Rausch bis zur absoluten Erschöpfung reichen kann.
Die heutzutage übliche Einteilung in Frei- und Arbeitszeit verdeutlicht, dass der Begriff Freizeit als eine Form der Auszeit untrennbar an den Begriff Arbeitszeit gebunden ist. Ausgehend von der Maxime »Ne travaillez jamais« (»Arbeitet nie«) der Mitglieder der Situationistischen Internationale, einer antikapitalistischen, antibürgerlichen Bewegung linksorientierter Intellektueller (1957–1972), der auch Künstler der in der Sammlung Selinka vertretenen Künstlergruppen CoBrA und SPUR kurzzeitig angehörten, stellen die künstlerischen Positionen des nächsten Ausstellungsteils »Why work? Vom Wert der Auszeit« die Auszeit als Antipol zum Konzept der Arbeit ins Zentrum. Mit der Aufforderung »Arbeitet nie« setzt die Situationistische Internationale zum Schlag gegen die Berufstätigkeit (»entfremdete Arbeit«, Karl Marx) an und erhebt die Selbstermächtigung als Bestimmungsmerkmal des Tuns zum Ausdruck ihrer Lebenshaltung. Auch in den weiteren Werken wird der Blick immer wieder kritisch auf das Verhältnis von Freizeit und Arbeitszeit, von persönlicher und ökonomischer Taktung gerichtet. Mladen Stilinović erhebt beispielsweise den Müßiggang in seinen Arbeiten zu einer Haltung, die das Nichtstun als Bedingung der Kunst einfordert, oder Yoko Ono (*1933 JP) und John Lennon (1940–1980 GB) führen mit den Bed-Ins for Peace (1969) vor Augen, wie sich das Liegenbleiben zur Geste des Protests wandeln kann.
Der dritte Ausstellungsteil »Wahrnehmungsverschiebungen: Zum Eigensinn der Kunst« formuliert Alternativen zur Wahrnehmung von Zeit und Raum und rückt die individuelle sinnliche Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Mit speziellen Zeit- und Raumkonzepten und der Erfahrung von Momenten der Muße eröffnen die Arbeiten eine neue Perspektive der Aufmerksamkeit: So entdeckt William Engelen (*1964 NL) mit seiner Arbeit im Alltagsrhythmus das Potenzial einer Partitur, während Sophia Hoffmann (*1980 DE) und Franziska Hoffmann (*1982 DE) in ihrer Installation Clockwise (2019) ehemaligen Wanduhren eines Betonherstellers einen eignen Rhythmus einschreiben, um eine visuelle wie akustische Erfahrbarkeit der Zeit jenseits ökonomischer Maßstäbe zu erzeugen. Ernesto Netos (*1964) Werk steht per se für eine multisensuelle Erfahrbarkeit. Seine Plastik In the Corner of Life (2013) vereint zwei biomorph anmutende Elemente aus Cortenstahl, die der Platzierung einer Hängematte dienen, einem Sinnbild der Auszeit schlechthin.
In dem letzten Ausstellungsteil How to Be in the Moment? steht die genuin moderne Vorstellung der Auszeit als Unterbrechung des getakteten Lebensalltags mit Strategien der Entschleunigung und Präsenzerfahrungen im Mittelpunkt, die nicht selten humoristisch unterwandert werden. So zeigt sich der Künstler Friedrich Kunath (*1974 DE) in einer Fotografie beim eindringlichen Studieren eines Buchs mit der titelgebenden Frage How to be in the Moment und führt heutige Ratgebertrends ad absurdum. Die installative Arbeit Das gesunde Werden (2009) von Christian Jankowski (*1968 DE) gibt Einblick in seinen Aufenthalt in einer Privatklinik zur Optimierung von Körper und Geist und verdeutlicht, wie eine Auszeit, die der Selbstoptimierung dient, zu einer komplexen Unternehmung werden kann. Spätestens bei Erwin Wurms (*1954 AT) Aufforderung einer seiner partizipativen One Minute Sculptures wird die Auszeit schließlich für jeden Besucher selbst erfahrbar – in diesem Sinne: Lay down, take a deep breath, don't think and feel connected (2005).
Konzipiert wurde »Auszeit. Von Pausen und Momenten des Aufbruchs« lange, bevor SARS-COV-2 als rahmender Kontext dieses Projekts unser alltägliches Leben bestimmt hat. Mit dem temporären Einfrieren des öffentlichen Lebens während der globalen Corona-Pandemie hat der Begriff ›Auszeit‹ neue Konnotationen erhalten, die der rumänische Künstler Dan Perjovschi (*1961) mit seinen zeichnerischen Interventionen pointiert kommentiert.
Mit Arbeiten von Marina Abramović, Bas Jan Ader, Cosima von Bonin, Natalie Czech, Alejandro Cesarco, Die Tödliche Doris, Otto Dix, William Engelen, FORT, Valeska Gert, Rodney Graham, Axel Heil, Sophia & Franziska Hoffmann, Christian Jankowski, Ernst Ludwig Kirchner, Barbara Klemm, Friedrich Kunath, Mark Leckey, Otto Mueller, Ernesto Neto, Yoko Ono / John Lennon, Max Pechstein, Dan Perjovschi, Karl Schmidt-Rottluff, Situationistische
Internationale, Mladen Stilinović, Grace Weaver, Erwin Wurm und Andrea Zittel
Ausstellungsbegleitender Katalog: mit Texten von Christiane Remm, Ute Stuffer und Kristina Groß, Deutsch/Englisch, 16,4 x 11,5 cm, 353 Seiten
Kuratiert von: Kristina Groß (Kuratorin, Kunstmuseum Ravensburg)
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