Simone Fattals nomadische Biografie ist von vielen Bruchlinien geprägt, die ihre vielfältige, fast fünfzig Jahre zurückreichende künstlerische Praxis bestimmen. Aufgewachsen ist sie inmitten des reichen Erbes der historischen Region Syrien und Libanon und der turbulenten Nachwirkungen der französisch-britischen Aufteilung des Osmanischen Reiches, und von klein auf erlebte sie in ihrer Heimat das Zusammentreffen des zeitlosen Wissens alter Zivilisationen und der düsteren Hinterlassenschaften des Krieges. In den 1960er Jahren studierte Fattal Philosophie in Beirut und Paris, wo sie später auch Archäologiekurse besuchte. 1980 zog sie während den Unruhen des libanesischen Bürgerkriegs (1975–90) nach Sausalito, Kalifornien, und war dort als Verlegerin und Bildhauerin tätig. Mit ihrer unstillbaren Neugier für moderne Geschichte und die Antike und geprägt von Auseinandersetzungen mit Geschlechterpolitik trotzte Fattal konventionellen Zuordnungen künstlerischer Medien und kultureller Identität.
Für ihre Ausstellung The Manifestations of the Voyage hat sie eine neue Gruppe an Werken geschaffen, die sich mit dem aktuellen Zustand der Menschheit und unserer fragilen Beziehung zur Natur auseinandersetzen. Dabei hat sie sich von den mythologischen Figuren der weit zurückliegenden Vergangenheit inspirieren lassen. Die Präsentation im Portikus unterstreicht die Verflechtung von dem geschriebenen Wort und visuellen Ausdrucksformen und stellt Fattals parallele Tätigkeit als Künstlerin und Verlegerin in den Vordergrund. In einem eigens eingerichteten Leseraum finden die Besucher*innen eine umfassende Auswahl an Büchern, die bei The Post-Apollo Press (1982–2017) erschienen sind.
Bücher haben in Fattals Vorstellungswelt eine entscheidende Rolle eingenommen. Ihre Skulpturen, Collagen und Zeichnungen sind an Leitmotive und Figuren angelehnt, die sie unter anderem aus ihrer Lektüre des Sufismus und der islamischen Mystik, der griechischen Epen und der ägyptischen Mythologie entnommen hat.
Das mesopotamische Gilgamesch-Epos (ca. 2100–1200 v.Chr.), das ursprünglich auf Akkadisch verfasst und erst Ende des 19. Jahrhunderts in eine westliche Sprache übersetzt wurde, nimmt in der Bibliothek der Künstlerin einen
besonderen Platz ein. Sein Protagonist, der mächtige König von Uruk, und dessen treuer Freund Enkidu dienen in vielen Werken Fattals als Archetypen für menschliche Schwächen.
Der Hauptausstellungsraum beherbergt eine kolossale Figur namens Humbaba (2023), die den gleichnamigen Wächter des Zedernwaldes darstellt. Für die Künstlerin ist der Sieg über Humbaba, der – vor dem Hintergrund des Fällens der
Bäume im Wald – als leichtsinnige und von Gier getriebene Tat Gilgameschs beschrieben werden kann, exemplarisch für die fatalistische Beziehung zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung, die auch heute noch in Form von Rodungen Bestand hat. Flankiert von einer Reihe großer Tuschezeichnungen von Bäumen (The Forest, 2023), die von der Decke hängen, und Mushrooms (2023), eine Serie von Pilzen, die im Raum verteilt sind, taucht der mythologische, edle Riese einmal mehr als Schutzfigur auf und erinnert uns an unsere eigene Sterblichkeit. Vor der natürlichen Kulisse der Maininsel steht Fattals Young Man (2023), eine an den hölzernen Wagen The Chariot (2023)
angelehnte Figur, als Allegorie für zukünftige Generationen.
Durch die Platzierung der Werke gegenüber von Humaba in seinem Wald, möchte die Künstlerin uns zum Nachdenken über unsere eigene Lebensreise anregen, die obgleich voller Tragik immer auch neue Hoffnung in sich trägt. Indem Fattal einen visuellen Dialog zwischen historischen Kategorien und Darstellungsmitteln schafft, unterstreicht sie das Paradoxe an diesen Werken, die trotz ihrer massiven Größe durch ihre Materialität auf ihre Zerbrechlichkeit hinweisen.
Die Bibliothek im unteren Ausstellungsraum ist ihrem Verlag The Post-Apollo Press gewidmet und verdeutlicht ihr Engagement für die Förderung der Arbeit von Schriftsteller*innen mit unterschiedlichem Hintergrund. Nachdem sie sich mit ihrer Lebensgefährtin, der Malerin und Dichterin Etel Adnan (1925-2021), in Kalifornien niedergelassen hatte, gründete Fattal 1982 den Verlag, der sich auf experimentelle Lyrik und Prosa konzentriert. Mit Schriftsteller*innen wie Marguerite Duras, Barbara Guest, Fanny Howe, Muhyiddin Ibn al-‘Arabi, Elfriede Jelinek, Jalal Toufic und Rosemarie Waldrop schlug The Post-Apollo-Press eine Brücke zwischen Schriftsteller*innen aus den USA, dem Nahen Osten und Europa und spielte eine Schlüsselrolle dabei, Literatur durch Übersetzungen einem neuen Publikum nahezubringen. An den Wänden des Lesesaals hängt Holzwege (2023), eine Tapete, die eine speziell für
die Ausstellung geschaffene Zeichnung der Künstlerin reproduziert. Um zu verdeutlichen, dass die verlegerische Arbeit Fattals immer auch eine kollektive Unternehmung war, wurden der Schriftsteller und Philosoph Jalal Toufic
sowie die Künstlerin und Autorin Ala Younis eingeladen, Hörstücke zu The Post-Apollo Press beizusteuern.
Zwei Papierservietten zieren eine Wand des Lesesaals und können als Epilog zur Ausstellung verstanden werden. Diese ephemeren Schriftstücke tragen die ineinander verschlungene Handschrift von Fattal und Adnan und halten einen flüchtigen Moment fest, den sie 1989 in Tonys Café in Marshall, Kalifornien, erlebten. Unter den schriftlichen Notizen und Zeichnungen befindet sich die Inschrift „The Manifestations of Voyage“, der Titel eines Gedichts von Adnan, das Fattal veröffentlicht hat und das die tiefe kreative Verbindung der beiden Künstlerinnen auf ihrer Reise durch das Gesehene und das Imaginierte widerspiegelt.
The Manifestations of the Voyage wird von der ersten Monografie der Künstlerin begleitet, herausgegeben von Portikus und Hatje Cantz. Mit Essays langjähriger Wegbegleiter und neuen wissenschaftlichen Beiträgen internationaler Autor*innen konzentriert sich die Publikation auf Simone Fattals Rolle als Künstlerin und Herausgeberin von The Post-Apollo-Press. Das Werk enthält Beiträge von Etel Adnan, Liberty Adrien, Carina Bukuts, Steve Dickison,
Edwin Nasr und Yasmil Raymond. Das Buch wurde von SpMillot, Paris, gestaltet und wird im September 2023 erscheinen.
Simone Fattal (geb. 1942 in Damaskus, Syrien) ist eine in Paris lebende Künstlerin. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen gehören Ocean Space, TBA 21 Academy, Venedig (2023); Whitechapel Gallery, London (2022); ICA Milan (2021); Bergen Kunsthall (2020) und MoMA PS1, New York (2019). Im Jahr 2022 wurde ihr Werk in die 54. Biennale di Venezia, die 16. Biennale de Lyon und die 12. Berlin Biennale aufgenommen.
PORTIKUS
Alte Brücke 2 / Maininsel
D–60594 Frankfurt/Main
www.portikus.de
Presse
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