Unstable Planetary Spaces untersucht, wie sich Künstler*innen und Aktivist*innen mit einigen der schwerwiegendsten Langzeit-Katastrophen auseinandersetzen – vom Schrumpfen des Mega-Sees Tschad aufgrund des Klimawandels bis hin zur radioaktiv belasteten Fukushima-Sperrzone, die durch den nuklearen Fallout in Japan im Jahr 2011 verursacht wurde. Das Panel on Planetary Thinking (Justus-Liebig-Universität Gießen) arbeitet mit der Kunsthalle Gießen zusammen, um die Arbeit der Fellows im Planetary Scholars & Artists in Residence Program zu zeigen – Adenike Titilope Oladosu (I Lead Climate Action) und Jason Waite (Don't Follow the Wind).
Die Ausstellung konzentriert sich auf zwei spezifische planetare Räume – den Tschadsee in Westafrika und die Fukushima-Sperrzone in Japan – die uns die radikalen, menschen-gemachten Veränderungen der Erde vor Augen führen. Indem wir diese instabilen Orte genau betrachten, lernen wir nicht nur etwas über die bedrohten Gebiete selbst, sondern können auch Bezüge zu Europa und Gießen herstellen.
Die Umweltaktivistin und Ökofeministin Adenike Titilope Oladosu, ansässig in Abuja, Nigeria, zeigt Satellitenaufnahmen aus ihrer Arbeit zum einstigen Mega-See Tschad, der an Nigeria, Tschad, Kamerun und Niger grenzt und die Lebensgrundlage für Millionen von Menschen darstellt. Das rasante Schrumpfen des Tschadsees seit den 1970er Jahren führt zum Verlust von Ernten, gesteigerter Armut, Migration nach Europa und sogar zur Entstehung militanter Gruppen wie Boko Haram, die bewaffnete Konflikte in der Region anheizen. Um diesen Krisen zu begegnen, setzt Oladosu Fernerkundungswerkzeuge ein, um die massiven Veränderungen des Sees zu dokumentieren. Die dabei entstandenen Aufnahmen werden erstmals in der Kunsthalle Gießen gezeigt. Die Bilderserie veranschaulicht wie sich Wasserstand, Vegetation und angrenzende Landschaften entwickelt haben und informiert über die verheerenden Auswirkungen dieser
Veränderungen. Oladosu fordert mit ihrer Arbeit dazu auf sich vorzustellen, wie ein wiederhergestellter Tschadsee aussehen könnte. Das Verwirklichen dieses Szenarios, dafür macht sich Oladosu stark, hätte nicht nur einen tiefgreifenden Einfluss auf die Region, sondern auf den gesamten Planeten.
Der Kurator und Kulturschaffende Jason Waite ist Teil von Don't Follow the Wind, ein Kollektiv von Künstler*innen und Kurator*innen (Chim↑Pom, Kenji Kubota, Jason Waite, Eva & Franco Mattes), das eine Langzeit-Ausstellung in der unzugänglichen und radioaktiv belasteten Fukushima-Sperrzone betreibt. Gemeinsam gehen sie der Frage nach, welchen Beitrag Kunst in der Bewältigung von Langzeit-Katastrophen leisten kann. Die Ausstellung besteht aus 12 neuen
künstlerischen Projekten, in denen die Künstler*innen mit den vertriebenen Bewohner*innen der Zone zusammenarbeiten. Die Installationen in den verlassenen Häusern im Sperrgebiet wurden 2015 eröffnet, konnten aber aufgrund der anhaltenden Strahlenbelastung noch nicht von der allgemeinen Öffentlichkeit besichtigt werden. Die Ausstellung erinnert daran, dass Kunst sogar in Gebieten aktiv sein kann, in denen Menschen nicht mehr leben können.
Während des fortlaufenden Betriebs der Ausstellung haben Waite und das Kollektiv festgestellt, dass sich eine gewaltige Vielfalt an nicht-menschlichen Tieren in der Abwesenheit der Menschen das Gebiet zu eigen gemacht hat. So begann das Kollektiv, diese Besucher und Mitgestalter der Ausstellung näher zu betrachten. Zusammen mit Wissenschaftler*innen, Forscher*innen und ehemaligen Ortsansässigen installierte das Kollektiv Wildkameras, um Einblicke darin zu gewinnen, wer die ehemalige Farm nutzte und auf welche Weise die Tiere mit den Kunstwerken interagierten. Während seines Stipendiums am Panel on Planetary Thinking hat Waite dieses Videomaterial gemeinsam mit seinen Kollektiv-Kolleg*innen analysiert und sie mit neuen Aufnahmen durch Wildkameras verglichen, die rund um Gießen installiert wurden. Die 3-Kanal-Videoinstallation zum „Non-Visitor Center“ der Ausstellung (2023) von Don't Follow the Wind trägt diese mehr-als-menschlichen Welten von Fukushima nach Gießen und fragt danach, welche Lehren über menschliche und nicht-menschliche Anpassungsstrategien wir aus ihnen ziehen können – eine wichtige Frage in Anbetracht der vielen planetaren Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Die in New York ansässigen Künstler*innen Eva & Franco Mattes, die ebenfalls Teil des Kollektivs sind, zeigen ihr Projekt „Fukushima Texture Packs“ (2015–heute). Für dieses Projekt fotografierten sie Texturen aus der Zone wie Schotterstraßen, abgestorbenes Gras oder weggeworfene Matratzen und verwandeln diese Oberflächen in Bilder, die als digitale Ressourcen online für die Verwendung in Film, Design, 3D-Modellierung oder Videospielen freigegeben
wurden. Diese digitalen Texturen können in verschiedenen Kontexten verwendet oder sogar ausgedruckt und in die physische Welt eingebettet werden. Im Zentrum der Ausstellung stehen ein Teppich und Sitzmöglichkeiten für Besucher*innen bereit, die mit Mustern aus den „Fukushima Texture Packs“ bedruckt wurden.
Der in Amsterdam, Istanbul und Berlin ansässige Künstler Ahmet Öğüt, einer der teilnehmenden Künstler bei Don't Follow the Wind, zeigt ein Video der Testreihe „Once Upon a Time Breathing Apparatus for Breathable Air“ – eine unheimliche Verschmelzung der Geschichte Fukushimas und seiner kontaminierten Gegenwart. Öğüt hat eine modifizierte Samurai-Strahlenschutzrüstung entwickelt, die aus einem Level A Hazmat-Anzug (Schutzanzug) besteht, der Teile einer jahrhundertealten Samurai-Rüstung enthält. Die Rüstung stammt aus der Zeit der Feudalkriege in Japan und wurde der Ausstellung von einem ehemaligen Bewohner der Sperrzone – ein Pferdezüchter aus der Region – gespendet. Öğüts Arbeit fragt danach, wie Traditionen des Gebiets Fukushima gegenwärtige Vorstellungskräfte erweitern können, um zukünftigen Katastrophen die Stirn zu bieten.
Kunsthalle Gießen
Berliner Platz 1 I 35390 Gießen
www.kunsthalle-giessen.de
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