Im Juli verwandelt die schottische Künstlerin Rachel Maclean (*1987 Edinburgh, GB; lebt in Glasgow, GB) die Kunsthalle Giessen in ein Gesamtkunstwerk. Die Ausstellung Mama Mimi Duck präsentiert ein begehbares Diorama mit erstmals ausgestellten digitalen Malereien sowie zwei raumgreifende Videoinstallationen. Macleans zweidimensionale Arbeiten werden dabei geschickt in einen Parcours kulissenhafter Räume eingebettet, die es den Betrachter:innen erlauben, in verschiedene Welten einzutauchen.
Im Zentrum von Rachel Macleans multimedialer Praxis stehen virtuelle Realitäten, Deepfakes, Foto- und Filmtechniken, mit denen sie grelle, fantastische Erzählungen zum Leben erweckt. Die Künstlerin entwickelt satirische Gesellschaftsparodien aus Politik und Popkultur, die Themen wie Digitalisierung, Social Media, Gender und Kapitalismus aufgreifen. Opulent und auflergewöhnlich inszeniert, kreiert Maclean immersive Environments und kitschig-groteske Gemälde, in denen die Grenzen zwischen Zweidimensionalität sowie fiktivem und realem Raum verschwimmen.
Das Herzstück der Ausstellung ist Macleans neuer Werkkorpus Mama, bestehend aus groflformatigen digitalen Gemälden, die in eine opulente Landschaft aus Vorhängen eingebettet sind. Mama beleuchtet die verwirrende und surreale Erfahrung der neuen Mutterschaft. Zusätzlich präsentiert die Künstlerin ihren ersten voll animierten Film upside mimi ᴉɯᴉɯ uʍop, der den Druck thematisiert, den Soziale Medien insbesondere auf junge Menschen ausüben. In ihrer Videoarbeit DUCK verhandelt Maclean aktuelle Trends wie Berichterstattungen durch ungeprüfte Quellen mittels Deepfakes.
Vertraute, an eine ausufernd exzessive Gender-Reveal-Party oder Babyshower erinnernde Motive, wie Luftballons, Schleifenbänder, Geschenkboxen und Teddybären in klischeehaften Babyblau- und Rosa-Tönen, dominieren die Bildwelten von Mama. Doch bei genauerer Betrachtung offenbaren sich nach und nach verstörende Verzerrungen: Die Babys erscheinen grotesk entstellt, ihre Körper verschmelzen untrennbar mit denen der Mütter. Mit oberflächlicher Unschuld, unter der sich eine beklemmende Dunkelheit offenbart, reflektiert Mama die vielschichtigen, oft ambivalenten Emotionen des Elternseins. Maclean thematisiert auch die gesellschaftliche Unsichtbarkeit von Müttern, indem sie ihre Köpfe oft durch den Rand der Leinwand abschneidet. So verlagert sich der narrative Fokus auf die Babys, die zu Vermittlern der oft übersehenen Emotionen der Mütter werden.
Die auftürmenden Bildkompositionen und an Putten erinnernde Babys, teils mit KI generiert und bearbeitet, entstammen der verspielten, ornamentalen Bildsprache des Rokokos (ca. 1730 – 1780). Dessen männliche Künstler eigneten sich einen weiblich konnotierten Stil und Motive an, ohne wirklich Einblick in die weibliche Erfahrung zu bieten. Somit macht Maclean es sich zur Aufgabe feminin erscheinende Bilder neu zu interpretieren, um das Muttersein zu erforschen.
Aufwändig drapierte Vorhänge, Volants und Schleifenbänder setzen diese maximalistisch, übertriebene Bildwelt– analog zum Setting der Videoinstallation – in den physischen Ausstellungsraum fort.
An das lebensgrofle Diorama anschließend, entstehen in der Kunsthalle Giessen durch zusätzlich eingebaute Wänden mehrere Räume im Raum, die die Videoarbeiten DUCK und upside mimi ᴉɯᴉɯ uʍop präsentieren. Beide Arbeiten knüpfen an unterschiedliche Aspekte Mamas an. Auch upside mimi ᴉɯᴉɯ uʍop beinhaltet eine kritische Betrachtung des weiblichen Erfahrungshorizonts. Eingebettet in eine Rauminstallation, wird die zunächst märchenhaft erscheinende Welt des Films zunehmend auf den Kopf stellt. Mimi, Hauptfigur und reizende Zeichentrickprinzessin, erscheint in jeder Hinsicht perfekt. Glücklich lebt sie in einem Zauberwald mit Disneyästhetik. Als zeitgenössische Reinkarnation von Schneewittchen besitzt Mimi einen Zauberspiegel, der mit seinem gelben Emoji-Gesicht und Herzform an ein Smartphone erinnert. Sie wird nicht müde ihn zu fragen wer die schönste im Land ist. „Du“, antwortet der Spiegel, „solange du nicht alterst“, und spritzt Mimi eine Tinktur. Anstatt sie jedoch zu verjüngen sieht sich Mimi mit ihrem eigenen Verfall konfrontiert. Diese zunehmend grotesk erscheinende Märchengeschichte ist Macleans Kommentar zu den alptraumhaften und zerstörerischen Folgen unserer Technologiesucht, ihrem Einfluss auf das weibliche Körperbild und den falschen Versprechungen des kapitalistischen ‹berkonsums. Umgedrehte Wandleuchten und ein Fuflboden der wie die Decke erscheint, erweitern die verkehrte Welt der Zeichentrickprinzessin Mimi in den Ausstellungsraum.
Auch DUCK setzt sich kritisch mit den neuesten technologischen Entwicklungen auseinander.
Hier geht Maclean noch einen Schritt weiter als in Mama und verwendet KI und maschinelles Lernen, um Tote wieder zum Leben zu erwecken. Durch „face swapping“ tauscht die Künstlerin, die alle Rollen in ihren Filmen selbst spielt, ihr eigenes Gesicht mit denen von Marilyn Monroe und dem jungen Sean Connery. Es entspinnt sich eine surreal anmutende Geschichte, die zwischen 1960er-Jahre Hollywood, Splatter-Videospiel und Science-Fiction-Film changiert.
Der Titel DUCK bezieht sich auf den englischen Spruch „If it looks like a duck, swims like a duck, and quacks like a duck, then it probably is a duck“ (dt. wenn es wie eine Ente aussieht, wie eine Ente schwimmt und wie eine Ente quakt, dann ist es wahrscheinlich eine Ente) der besagt, dass man etwas zunächst Unbekanntes durch Beobachtung bestimmter Verhaltensweisen und des Aussehens einfach und eindeutig identifizieren kann. Dieser sogenannte „Enten-Test“ geht also davon aus, dass die Dinge tatsächlich so sind, wie sie erscheinen, und wir unserer Wahrnehmung vertrauen können. In der ironischen Umkehrung dieses Spruchs – was im Film als Ufo erscheint entpuppt sich als Ente – reflektiert der Film wie die deepfakes unserer posttruth ƒra seine Gültigkeit aus den Angeln heben. Somit hinterfragt Maclean Wahrheit und Lüge, sowie die Verlässlichkeit von Informationen und Bildern. Um den immersiven Aspekt zu erhöhen, werden auch hier Elemente wie Vorhänge, Beleuchtung oder Bänke aus dem Film in den Realraum überführt und lassen die Grenze zwischen filmischer Inszenierung und physischem Erleben miteinander verschmelzen.
Kunsthalle Giessen
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