Der Kunstverein Göttingen eröffnet mit „No Friends but the Mountains“ die erste institutionelle Einzelausstellung von Melike Kara in Deutschland. Die in Köln lebende Künstlerin wirft in der Ausstellung mittels Fotografien, Malereien und Installationen einen persönlichen Blick auf die kurdisch-alevitischen Wurzeln ihrer Familie und geht damit Fragen nach Herkunft, Tradition und Gemeinschaft nach.
Zentrum von Karas künstlerischer Auseinandersetzung ist die Region um das Bergmassiv „Düzgün Baba“ in der Nähe der Stadt Nazımiye im Osten der Türkei. Benannt nach der Legende eines Hirten mit Wunder vollbringenden Kräften, ist der Gipfel des Berges eine alevitische Pilgerstätte, an der Menschen nach Heilung und Segen suchen. Karas Familie stammt aus dieser Region, und ein Teil ihrer Vorfahren waren als Schamanen eng mit dem Pilgerort verbunden. Kara besuchte Düzgün Baba mit ihrer Großmutter, die nach Deutschland ausgewandert war, und nahm an verschiedenen Riten und Opferritualen teil. Fotografisches Material von dem Pilgerort und den Menschen, denen sie dort begegnete, verbindet Kara in der Ausstellung mit Referenzen auf kulturelle Traditionen, die im Begriff sind, zu verschwinden. In einer Serie von Skulpturen und Malereien widmet sie sich beispielweise den sogenannten „deq“-Tatoos, die kurdische Frauen vor allem an Gesicht, Hals und Händen tragen. Sie gelten als Schmuck und dienen gleichzeitig dazu, sich vor bösen Geistern zu schützen. Die Symbole vermitteln wichtige Ereignisse im Leben der Frauen und sind mit Bedeutungen wie Freude, Hoffnung, Schmerz oder Angst verbunden. Heute werden sie meist nur noch in den älteren Generationen getragen; als Chronistin hält Kara in einer mehrteiligen Arbeit von Malereien Detailansichten dieser Tatoos und damit die im Verschwinden begriffene Tradition fest.
Die Berge Anatoliens haben für die kurdische Bevölkerung historisch wegen deren politischer Situation eine besondere Bedeutung, da sie die Möglichkeit bieten, sich zurückzuziehen und zu schützen. Gleichzeitig existiert eine spirituelle Verbundenheit zu den Bergen und Hügeln, die in vielen Religionen als heilige und göttliche Orte angesehen werden, weil sie dem Himmel nahe liegen. Das kurdische Sprichwort „No Friends but the Mountains“ hat angesichts der aktuellen Ereignisse erneut an trauriger Relevanz gewonnen. Mit dem Einmarsch türkischer Truppen in die autonom verwalteten kurdischen Gebiete Nordsyriens wurde eine Verwirklichung der Sehnsucht nach politischer Autonomie für die Kurden in weite Ferne gerückt. Angesichts dessen widmet Kara die Ausstellung einem Volk ohne Land und schlägt durch ihre persönliche Geschichte eine Brücke zum kollektiven Vermächtnis der Kurden. Durch die Verbindung ihrer malerischen Praxis in der Ausstellung mit Skulptur, Installation und Fotografie wird der narrative Charakter der Werke stärker betont. Sie erzählen von dem durch Rituale und mündliche Geschichten produzierten Wissen und dessen Bedeutung für eine Bevölkerungsgruppe, deren Geschichte durch Verfolgung und Vertreibungen geprägt ist.
Kuratorin: Tomke Braun
Kunstverein Göttingen
Gotmarstraße 1
37073 Göttingen
www.kunstvereingoettingen.de
Melike Kara (*1985) lebt und arbeitet in Köln. Von 2007-2014 studierte Kara an der Kunstakademie Düsseldorf bei Rosemarie Trockel. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen gehören „New Work“, Witte de With Center for Contemporary Art, Rotterdam (2019); „My Beloved Wild Valley“, Arcadia Missa Gallery, London (2019) und „A Taste of Parsley“, Yuz Museum, Shanghai (2018). Sie nahm an zahlreichen Gruppenausstellung teil, u.a. beim Dortmunder Kunstverein, Dortmund (2018); David Roberts Art Foundation, London (2017) und Komplot, Brüssel (2016).
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