Geburt und Tod – Beginn und Ende des menschlichen Lebens stehen im Mittelpunkt der Ausstellung A Journey You Take Alone mit Arbeiten der britischen Künstlerin Emma Talbot (*1969 Stourbridge, lebt in London) in der Kunsthalle Gießen. Eng verwoben mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen verhandelt Talbot in ihren Werken Motive rund um Liebe und Trauer, Alter und Vergänglichkeit. Ihre Zeichnungen, häufig auf Seide oder anderen Textilien ausgeführt, bilden narrative Sequenzen, die trotz ihrer persönlichen Perspektive in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext gesetzt werden können. Sie untersuchen die menschliche Existenz aus einem weiblichen Blickwinkel. Dabei stehen Geschlechterungleichheit und Machtstrukturen sowie unsere Beziehung zu Natur, Technologie und Sprache im Vordergrund. So entwickelt Emma Talbot innere lyrische Landschaften aus ihren Emotionen, ihrem Schmerz und Träumen, die sie mit gesellschaftlichen Realitäten und Theorien aus Literatur, Philosophie, Psychologie und feministischer Wissenschaft verknüpft.
Feinsinnig kreiert die Künstlerin Bildwelten, die von einer tiefgründigen Gesellschaftskritik geprägt sind und sich zu einem narrativen Gespinst verdichten. In Talbots prägnanten Zeichnungen und Animationen, die von gesichtslosen, meist weiblich gelesenen Figuren bevölkert sind, wuchern immer wieder organische Muster und Formen, die ein ständiges Wachsen, Fließen und Werden erzeugen. Die zum Teil kosmisch anmutenden Raumkonstellationen wirken entrückt, zeit- und ortlos. Sowohl ihre großen Seidenarbeiten als auch ihre Animationen zeichnen sich durch leuchtend psychedelische Farben aus, in denen sich Text, Figuration und überbordendes Ornament zu einem flirrenden Gewebe verbinden, das jenseits klassischer Kategorien wie illustrativ, abstrakt oder naturalistisch besteht.
Auffälliges Merkmal sind ihre Bildschriften aus eigenen Texten, Zitaten aus Liedern oder klassischer und zeitgenössischer Literatur. Diese erscheinen gleichberechtigt zu den zart gezeichneten Wesen, die als immer wiederkehrende Protagonist*innen durch das fein ausgearbeitete Ornamentwerk wandeln. Zugleich dienen die Figuren den Betrachter*innen als Projektionsfläche, die nicht nur die Erfahrungen der Künstlerin implizieren, sondern vielmehr die eigenen Gefühle angesichts der intensiven Fragestellungen ermitteln.
Talbots Arbeiten kennzeichnen in ihrer Sinnlichkeit den Eindruck einer besonderen Unmittelbarkeit und Intimität. Die Künstlerin nutzt das Potential der Zeichnung als direktes Ausdrucksmedium, das eine Übertragung innerer Erfahrungs- und Emotionsbilder verspricht.
Dabei ist die Zeichnung als Wurzel von Talbots medienübergreifendem Œuvre zu verstehen. Auch die dreidimensionalen Objekte – geheimnisvolle, rätselhafte Kreaturen mit opulenten Schlangenkörpern, präsentiert auf Experimentiertischen – können als raumgreifende Zeichnungen verstanden werden und machen Talbots charakteristische Bildsprache greifbar,stets durchsetzt mit Fragen und Aussagen zur menschlichen Existenz.
Mit ihren medienübergreifenden Arbeiten verwandelt Talbot die Kunsthalle Gießen in einen menschlichen Lebenszyklus und visualisiert die enge Verbindung und Koexistenz von Leben und Tod. Dabei räumt sie dem Sterben ebenso viel Platz wie dem Leben ein und schafft es die Schönheit und Eleganz des Trauerns ohne jegliche Theatralik zu visualisieren. So stehen sich in der Ausstellung die beiden großformatigen Seidenarbeiten The Human Experience (Your Birth)
und The Human Experience (Your Death) gegenüber und versinnbildlichen die Untrennbarkeit von Geburt und Tod. Dazwischen präsentiert Talbot ihr installatives Werk Your Birth: The Epic Historical Moment You Can’t Remember, in welchem der weibliche Prozess des Gebärens verdeutlicht wird. Mithilfe des erhöhten Podests wird die Entbindung zelebriert und zugleich zur Schau gestellt. So lichtet sich eine der Protagonistinnen mit einem Selfie-Stick ab und gibt sich der Selbstinszenierung hin. Talbot scheint hier auf die ständige Ver- und Beurteilung der Mutterrolle anzuspielen und darauf, dass die Geburt einen Akt in Einsamkeit darstellt. Dieses Auf-Sich-Allein-Gestellt-Sein, mit dem der Mensch zu Lebensbeginn und -ende konfrontiert ist, betont auch der Ausstellungstitel A Journey You Take Alone.
Die Solo-Show in der Kunsthalle Gießen präsentiert dem Publikum das vielschichtige Œuvre Talbots, das universelle Themen menschlicher Erfahrung anspricht. Die Künstlerin schafft dazu eine ganz eigene Welt, die die Betrachter*innen einlädt, sich in ein immersives wie faszinierendes künstlerisches Universum zu vertiefen.
Emma Talbot ist Gewinnerin des 8. Max Mara Art Prize for Women und war 2022 auf der Biennale di Venezia in The Milk of Dreams vertreten. Ihre Arbeiten wurden in Whitechapel Gallery, London; Collezione Maramotti, Italien; Beiqiu Museum, China; Victoria Miro, London; Eastside Projects, Birmingham; Kunsthaus Centre D‘Art Pasquart, Schweiz; Arcadia Missa, New York; KM21, Den Haag, Niederlande; Turner Contemporary, Margate; The Freud Museum, London; Lisson Gallery, London; Galerie Onrust, Amsterdam; Petra Rinck Galerie, Düsseldorf; Neuer Aachener Kunstverein, Deutschland und Tate St. Ives, England ausgestellt.
Talbot studierte am Birmingham Institute of Art & Design und Royal College of Art in London.
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