Stetige Bewegung und Formveränderung sind die Wesensmerkmale der Wolke. Indem sich die Wolke in ihrer mobilen Vielgestaltigkeit erfolgreich jeglicher Fixierung entzieht, ist es ihr im Umkehrschluss möglich, alles zu sein: vom sublimen Sehnsuchtswesen und bedeutungsschwangeren Gebilde über Wohnstatt der Götter bis hin zu nichts, als einem Haufen kondensierten Wassers. Wenn aber das Wesen der Wolke in ihrer fortwährenden Beweglichkeit und Gestaltmetamorphose besteht, wie soll sie dann im Bild festgehalten werden? Ist eine auf Papier oder Leinwand gebannte Wolke per se eine gefangene oder gar tote Wolke? Die Bilder der Ausstellung in der Graphischen Sammlung ETH Zürich zeigen, wie die Wolke den Ortswechsel vom Himmel aufs Papier mit Gewinn überstehen kann.
Lang bevor die Luftfahrt es möglich machte, sich bequem über die Wolken zu erheben und für einmal auf sie hinabzuschauen, entstanden bereits Bilder, die jene so unzugänglichen Gefilde aus der Vogelperspektive zeigten. Jedoch wurden die Wolkenlandschaften nicht um ihrer selbst willen dargestellt, sondern als Lebensraum überirdischer Wesen. In der Ausstellung sind die bewohnten Wolken durch Bilder vom 16. bis 19. Jahrhundert vertreten. Die Sektion eröffnet mit einem Kupferstich von Jacopo Francia (vor 1486–1557). Das berühmte Liebespaar, Amor und Psyche, lagert nackt und lässig auf dem weichen Weiss – und wer genau hinschaut, sieht, dass die Wolke unter Amors Arm ein doppelt gelegtes Kissen ist. Mit Francias Wolkenkissen ist eine Konstante dieser Kategorie von Wolkenbildern exemplarisch vorgegeben: Die Wolke ist hier stets ein schwereloser Festkörper, der vornehmlich als Sitzgelegenheit und Aufenthaltsort der mythologischen, christlichen und allegorischen Gestalten dient.
Den bewohnten Altmeisterwolken stehen in der Ausstellung Wolkenbilder moderner und zeitgenössischer Kunstschaffender gegenüber, ergänzt durch Fotografien von Forschungsreisenden wie Arnold Heim (1882–1965) oder Leo Wehrli (1870–1954) und dem Luftfahrtpionier Walter Mittelholzer (1894–1937) aus dem schier unerschöpflichen Fundus des Bildarchivs der ETH-Bibliothek. In dieser Sektion treten nun auch Wolken auf, die die Alten Meister noch gar nicht kannten: So feiern etwa Félix Bracquemond (1833–1914) und Henri Rivière (1864–1951) die wolkigen Massen, die aus den Schornsteinen der Flussdampfer aufsteigen wie ein göttliches Geschenk der Moderne; und bei Stefan Altenburger (geb. 1968) teilt ein weisser Kondensstreifen den blauen Himmel schnurgerade in zwei Hälften – nun ist es also der Mensch, der die Wolken macht!
In drei kleineren Werkgruppen werden Fragen aufgegriffen, die für Kunstschaffende immer wieder Antriebsfeder und Herausforderung bei der Darstellung von Wolken waren: Welche Gestalten birgt die Wolke? Kann eine Wolkenlandschaft Abbild der menschlichen Seele sein? Und wie lassen sich, gerade im Medium der Schwarz-Weiss-Kunst, Wolken im Streif- und Mondlicht umsetzen?
Das Interesse an der technischen Umsetzung von Wolkendarstellungen zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Ausstellung. Denn die Wolken gehören zu jenen Motiven, die es der Graphik besonders gut ermöglichen, ihre Unnachahmlichkeit im Vergleich zu anderen Medien, allen voran der Malerei, zur Schau zu stellen. Die Werkauswahl der Ausstellung zeigt exemplarisch, wie über Jahrhunderte hinweg die verschiedenen graphischen Verfahren gezielt eingesetzt wurden, um ganz unterschiedlichen Qualitäten der Wolken zu huldigen.
So brilliert etwa Hendrick Goltzius (1558–1617) in seinen in Kupfer gestochenen Wolken mit Moiré-Effekten, die das Flirren und Flimmern beim Blick in den Himmel und somit auch das Antistatische der Wolke nachempfinden. Die Mezzotinto-Wolken John Martins (1789–1854) hingegen zeigen kraft der nur in dieser Technik möglichen feinsten Grauabstufungen, wie sich das Streiflicht in den Wolken verfängt und jede noch so kleine Wölbung mit seismographischer Genauigkeit nachzeichnet. Markus Raetz (1941–2020) hingegen kommentiert mit der Technik der Pinselätzung das Prozesshafte und Zufällige der Wolken und zeigt, wie das Säureverfahren perfekt geeignet ist, um dunstig ineinanderfliessende Wolken wiederzugeben. Und wie liesse sich das zarte Farb- und Lichtspiel in einem Wolkenschleier besser wiedergeben als durch Pastellzeichnungen, wie sie Georges Wenger (geb. 1947) anfertigt? Mit unzähligen Klein- und Kleinstpünktchen, die sich gleich einem Schwarm zu mystischen Einheiten formieren, legt Harald Naegeli (geb. 1939) in seinen Tuschzeichnungen den Aufbau seiner « Urwolken» offen. Und was antwortet die Bildmagierin Meret Oppenheim (1913–1985) auf die Herausforderung Wolken und Graphik? Sie versteckt die Wolken im Papier – nur jenen, die die Blätter gegen das Licht betrachten, werden sie schlagartig als Wasserzeichen sichtbar.
So huldigt die Ausstellung den Wolken nicht nur als Motiv, sondern feiert sie auch als ein genuin graphisches Ereignis.
ETH Zürich
Graphische Sammlung
Rämistrasse 101, HG E 52
8092 Zürich
www.gs.ethz.ch
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