Das Frankfurter Städel Museum kann einen bedeutenden Ankauf für seine Sammlung verkünden: Der Städelsche Museums-Verein erwirbt mit finanzieller Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Hessischen Kulturstiftung die Fotografie-Sammlung von Uta und Wilfried Wiegand. Ein Teil der Sammlung gelangt zudem als Schenkung des Ehepaars Wiegand in die Bestände des Städel. Mit etwa 200 Fotografien des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne gehört die Sammlung Wiegand zu den wichtigsten Foto-Sammlungen. Das seit den 1970er-Jahren zusammengetragene Konvolut repräsentiert auf herausragende Weise die Entwicklung des Mediums Fotografie und spannt einen historischen Bogen von der Frühzeit über den Piktorialismus der Jahrhundertwende bis hin zur klassischen Moderne. Die Zusammenstellung ist nicht nur durch die außergewöhnliche Seltenheit und den perfekten Erhaltungszustand, sondern vor allem durch die besondere Qualität der Aufnahmen einzigartig. Vertreten sind internationale Ikonen der Fotografiegeschichte, darunter Werke von Eugène Atget, Brassaï, Julia Margaret Cameron, André Kertész, Heinrich Kühn, Dora Maar, Eadweard Muybridge, Nadar, Man Ray, Erich Salomon, August Sander, Edward Steichen und Alfred Stieglitz.
Max Hollein bedankt sich beim Ehepaar Wiegand für ihr Vertrauen in das Städel Museum. „Die Sammlung Wiegand ist eine Schatzkammer der frühen Fotografiegeschichte. Es gibt kaum eine Fotografie-Sammlung, die mit derartig kuratorischer Präzision und Konzentration zentrale Werke der Fotografie zusammengetragen hat. Der logische Ort für ein solches Konvolut ist der museale Kontext. Erst das außerordentliche Entgegenkommen des Ehepaars Wiegand hat es uns ermöglicht, diesen Ankauf zu tätigen und so den Sammlungsschwerpunkt Fotografie im Städel weiter zu etablieren – hierfür gilt Uta und Wilfried Wiegand mein ganz besonderer Dank“, so Hollein.
Die Vorsitzende des Städelschen Museums-Vereins, Sylvia von Metzler, sprach von einer „historischen Chance“, die genutzt werden konnte: „Der Erwerb dieser Fotografie-Ikonen ist ein seltener Glücksfall – vergleichbare Privatsammlungen früher Fotografie gibt es nur ganz wenige. Darum freut es mich ganz außerordentlich, dass der Städelsche Museums-Verein als größter Mäzen des Museums die Städel-Sammlung mit solch einem bedeutenden Ankauf signifikant vorantreiben konnte.“ Großzügige finanzielle Unterstützung für den Ankauf erhielt der Städelsche Museums-Verein von der Kulturstiftung der Länder sowie der Hessischen Kulturstiftung. „Für diese herausragende Unterstützung sei beiden Stiftungen an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich gedankt“, so von Metzler.
Mit über 200 hochkarätigen Werken aus der Sammlung der DZ BANK verfügt das Städel über einen herausragenden Bestand an Fotografie von 1945 bis in die Gegenwart. „Diesen Werken fehlte bislang allerdings der historische Anschluss an die Sammlung des Hauses. Durch den Erwerb der Sammlung Wiegand kann das Städel Museum nun die Geschichte der Fotografie als integralen Bestandteil der Kunstgeschichte von ihren Anfängen bis in die Gegenwart nachzeichnen“, so Dr. Felix Krämer, Sammlungsleiter Moderne im Städel Museum. Dabei werden die historischen Fotografien Seite an Seite mit Gemälden und Skulpturen der Epoche zu sehen sein. „Ich verspreche mir davon nicht nur eine lang überfällige Aufwertung der historischen Fotografie, sondern auch aufregende Impulse für die inhaltliche Beschäftigung mit Malerei und Skulptur“, so Krämer. Diese gemeinsame Präsentation stellt in Deutschland ein Novum dar. Technisch möglich wird sie durch neuentwickelte Lichtsysteme im Haus, die den unterschiedlichen konservatorischen Bedingungen gerecht werden. Zudem verfügen die Hauptwerke der Sammlung Wiegand über historische Bilderrahmen, was diese Präsentationsform auch unter ästhetischen Gesichtspunkten überzeugen lässt. Im Rahmen der Neupräsentation der ständigen Sammlung der Moderne, die am 17. November 2011 im Altbau des Städel eröffnet, werden die Fotografien der Sammlung Wiegand erstmals im Städel zu sehen sein.
Anders als in den USA interessierten sich die deutschen Museen lange Zeit insbesondere nur für die dokumentarischen Aspekte von Fotografie. Obwohl die ersten Fotografen Mitte des 19. Jahrhunderts ausgebildete Maler waren und die Bildkompositionen ihrer Fotografien oftmals neue Impulse für die Malerei lieferten, wurde die Fotografie noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als angebliche „Maschinenkunst“ eher gering geschätzt. Ungeachtet solcher Vorurteile war sie Architekten, Malern, Bildhauern oder Zeichnern von Anfang an als Vorlagenstudie und Modellersatz unentbehrliches Hilfsmittel. Zugleich diente sie der präzisen Naturbeobachtung und als eine Art Korrektiv der menschlichen Wahrnehmung bei der Wiedergabe von Licht und Perspektive. So war es für viele Künstler eine Selbstverständlichkeit, Fotoarchive anzulegen, die Darstellungen aus sämtlichen Motivbereichen enthielten, um sie für ihre Malerei zu nutzen. An vielen Beispielen der Sammlung Wiegand kann der Dialog zwischen der Fotografie im 19. Jahrhundert, die eine eigenständige Bildwelt und Ästhetik entwickelt hat, und der Malerei, die ihrerseits von der Fotografie beeinflusst wurde, besonders anschaulich demonstriert werden. Wie kaum ein anderes Medium hat die Fotografie die künstlerische Wahrnehmung seit dem späteren 19. Jahrhundert geprägt und damit auch grundlegende Veränderungen in der bildenden Kunst bewirkt.
Prof. Dr. Wilfried Wiegand und seine Frau Uta, die als Modedesignerin tätig ist, haben ihre Sammlung über mehrere Jahrzehnte hin konsequent mit einem sicheren Gespür für Qualität aufgebaut. Der promovierte Kunsthistoriker Wilfried Wiegand befasst sich seit etwa 40 Jahren auch publizistisch und wissenschaftlich mit der Fotografie und gilt als anerkannter Experte. Der ehemalige Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat mehrere Bücher zur Geschichte der Fotografie verfasst oder herausgegeben (Frühzeit der Fotografie, 1980; Die Wahrheit der Fotografie, 1981; Eugène Atget: Paris, 1998). Im Jahre 2005 erhielt Wiegand den Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie. Teile der Sammlung Wiegand wurden 1991 von Ute Eskildsen im Folkwang Museum Essen und zuletzt 2007 in der Villa Grisebach in Berlin gezeigt und waren in den letzten Jahren als Leihgaben in wichtigen Fotoausstellungen internationaler Museen zu sehen.
„Ebenso wie das Städel haben auch wir niemals in die Breite gesammelt, sondern uns auf zentrale Hauptwerke konzentriert. Wir haben die Fotografie stets als etwas begriffen, das der Malerei gleichwertig ist. Wir stellten uns die Fotos immer an Museumswänden vor. Im Konzept des neuen Städel haben wir unsere Vorstellung wieder erkannt, das Städel ist daher der ideale Ort für unsere Fotos. Es ist uns eine Ehre, dass die Sammlung hier, Seite an Seite mit Gemälden, nun einem breiten Publikum zugänglich wird“, so Uta und Wilfried Wiegand.
Schwerpunkte der Sammlung Wiegand sind Landschafts- und Architekturaufnahmen des 19. Jahrhunderts. Stadtansichten, Reisefotografien und Aufnahmen archäologisch bedeutender Orte waren ein wichtiges Feld der frühen Fotografie, die in diesem Bereich zunehmend an die Stelle der Reproduktionsgraphik trat. Viele Fotografien dieser Jahre enthalten kunstgeschichtliche Referenzen, darunter Roger Fentons The British Museum von 1857 sowie Gustave Le Grays Foto Salut der französischen Flotte vor Cherbourg von 1858, das an klassische Seestücke erinnert. Ebenso eindringliche Architektur- und Landschaftsaufnahmen verdankt die Sammlung auch Fotografen wie Édouard Baldus, Bisson Frères, Peter Henry Emerson, Francis Frith, Carlo Naya oder Giorgio Sommer, dessen Aufnahme vom Vesuv-Ausbruch am 26. April 1872 eines der frühesten Beispiele ästhetisch aufgefasster Dokumentationsfotografie darstellt. Eine Landschaftsaufnahme von Eadweard Muybridge zeigt das Golden Gate von San Francisco vor dem Bau der heute berühmten Brücke, der bekannte britische Fotograf ist in der Sammlung ebenso mit seriellen Momentaufnahmen eines trabenden Pferdes vertreten.
Zu weiteren Höhepunkten der Sammlung zählen Reportagefotografien und Künstlerporträts aus dem 19. Jahrhundert, dazu gehören unter anderem Nadars Porträt der Schriftstellerin George Sand von 1864, Julia Margaret Camerons 1867 aufgenommenes Bildnis von Mrs. Herbert Duckworth, der späteren Mutter von Virginia Woolf, Lewis Carrolls Kostümstudie Xie Kitchen as Tea-Merchant von 1873 oder David Octavius Hills Bildnis des Porträtmalers Robert Frain aus den Anfangstagen der Fotografie. Porträts vieler wichtiger Künstler der Weimarer Republik stammen von Hugo Erfurth. Er ist mit zwei großformatigen Aufnahmen von Käthe Kollwitz und Lovis Corinth in der Sammlung vertreten, ebenso August Sander mit einer Fotografie, die Otto Dix gemeinsam mit seiner Frau zeigt und im Städel ein perfektes Pendant zu Dix’ Gemälde seiner Familie darstellt. Noch enger ist der Bezug zur Städel-Sammlung bei Fernand Khnopff, von dem das Museum das großformatige Gemälde Der Jagdaufseher besitzt und von dem sich zwei handkolorierte Fotografien in der Sammlung Wiegand befinden.
Wiegands Vorliebe für eine bildhafte Fotografie demonstriert auch der hervorragende Bestand an Aufnahmen früher Piktoralisten um 1900. Diese strebten gezielt malerische Fotografien an und traten damit in Konkurrenz zur Landschafts- und Porträtmalerei. Protagonisten dieser Bewegung, Heinrich Kühn, Gertrude Käsebier oder Wilhelm von Gloeden, sind mit Beispielen in aufwendigen Druckverfahren vertreten, die die Darstellungen atmosphärisch veredeln. Auch Dora Maar, Edward Steichen oder Paul Outerbridge ging es in ihren im Kontext der Mode- oder Werbefotografie entstandenen Werken um ästhetische Formfindungen, die noch heute faszinieren. Von besonderer Bedeutung war den Surrealisten Eugène Atgets Aufnahme Sonnenfinsternis auf der Place de la Bastille von 1912. André Breton veröffentlichte das Foto am 15. Juni 1926 auf dem Umschlag der Zeitschrift Le Révolution Surréaliste und gab ihr den vieldeutigen Titel „Les dernières conversions“.
Städel Museum, Frankfurt
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