Die Textur, die jedem gewebten Stoff zugrunde liegt, entsteht durch das sich beständig wiederholende Überkreuzen zweier Fäden aus verschiedenen Richtungen. Diese strukturell bedingte Polarität nimmt der niederländische Künstler Willem de Rooij (*1969) zum Ausgangspunkt, um abstrakten Konzepten nachzuspüren – solchen wie etwa Gegensätzen, Kontrasten, Übergängen oder Nuancen. In seiner Einzelausstellung im Kunstverein München präsentiert er einige großformatige, hangefertigte Webarbeiten, in denen verschiedene Variationen durchgespielt werden: ein gradueller Übergang beispielsweise von Silber zu Gold (Vertigo’s Doll, 2010) oder die langsame Entwicklung von einem Schwarzton zu einem anderen (Black to Black, 2011); eine scheinbar pinkfarbene Monochromie erweist sich bei näherem Hinsehen als Konstrukt aus zehn unterschiedlichen Pink-Schattierungen (Mechanize her Jenny, 2011). Solche gewebten Stoffe finden sich seit 2009 in unterschiedlichen Konstellationen und Kontexten in de Rooijs multidisziplinärer künstlerischer Produktion. Dabei sind die Titel häufig Anagramme eines Titels (Silver to Gold verwandelt sich dann in Vertigos’s Doll) oder der mit dem Kontext zusammenhängenden Gesamtsituation.
Der Kunstverein München zeigt als erste europäische Institution diese Arbeiten als zusammengehörigen Werkkomplex. Für diesen besonderen Anlass hat Willem de Rooij zusammen mit dem Kunstverein München zwei neue Webarbeiten koproduziert, von denen eine große Arbeit Elemente vorheriger Webarbeiten zitiert und damit den experimentellen und retrospektiven Charakter der Ausstellung verdeutlicht. Blickt man auf Willem de Rooijs langjährige Karriere – auf seine internationalen Ausstellungen, seine Publikationen und seine Lehrtätigkeit –, zeigt sich, dass die Konzentration auf nur ein Medium für ihn höchst ungewöhnlich ist. Bekannt wurde er durch Arbeiten, in denen durch den Einsatz verschiedener Medien visuelle Wechselbeziehungen hergestellt wurden. Dazu zählen Filme, Mode, Fotografien und Skulpturen, aber auch Recherchen im anthropologischen und kunsthistorischen Bereich, und auch so unkonventionelle Ausdrucksformen wie etwa seine Blumensträuße. Die gewebten Stoffe stehen in engem Zusammenhang zu seinem restlichen Schaffen, sie spielen innerhalb der visuellen Matrix des Gesamtwerks eine explizite Rolle. Die Tatsache, dass dieses Medium nun für einen bestimmten Zeitraum alleine zur Geltung kommen darf, gibt uns die Möglichkeit, diesen etwaigen Sonderweg, den de Rooij mit seiner kritischen künstlerischen Haltung im Rahmen heutiger Bildproduktion beschreitet, etwas genauer in Augenschein zu nehmen.
In seinem Werk untersucht Willem de Rooij sowohl die Kontexte von Bildern und Kunstwerken als auch unsere Art und Weise, sie wahrzunehmen, zu produzieren und zu bewerten. Eine solche Untersuchung über die Rolle, die das Kunstobjekt im Kulturbereich spielt, gewinnt dabei an Wichtigkeit, weil unser Verständnis von „Wert“ und „Bedeutung“ zunehmend durch äußere Faktoren gelenkt wird – nämlich durch kulturelle oder historische Bezüge oder durch die spezifischen Interessen von Künstlern. Die Produktion der Webarbeiten und deren Präsentation im Kunstverein München erlauben eine Vielzahl kultureller und ästhetischer Assoziationen, ohne sich dabei auf einen einzigen Blickwinkel zu beschränken. Sie legen vielmehr ihre elementare Materialität und die ihr innewohnende Polarität offen. Der Betrachter kann die Arbeiten also ganz unmittelbar und durch die reine Anschauung erfahren – ohne all das äußere Bezugsbeiwerk, das De Rooij als „referentiellen Terror“ bezeichnet.
Willem de Rooijs Ausstellung im Kunstverein München kann als Gegenstück zu der Schau in der Neuen Nationalgalerie (2010/2011) betrachtet werden. Hier zeigte er mit der temporären Installation Intolerance einen neuen konzeptuellen Ansatz innerhalb seiner künstlerischen Praxis: Er kombinierte eine Auswahl von Gemälden des niederländischen Vogelmalers Melchior d’Hondecoeter (1636–1695) aus dem 17. Jahrhundert mit einigen gefederten kultischen Objekten des 18. Jahrhunderts aus Hawaii. Statt sich dabei aber darauf zu beschränken, lediglich Reproduktionen zu zeigen, hat sich De Rooij die Mühe gemacht, die Originale zu suchen, zu sammeln und schließlich auszustellen. Damit schuf er eine Art dreidimensionale Collage aus Originalobjekten, die eine künstlerische Sprache entwickelt, die nicht nur von der konzeptuellen Idee getragen ist, zwei historische Referenzen auf formaler Ebene miteinander zu verknüpfen, sondern auch den unmittelbaren Vergleich zwischen der Materialität, der Herstellungsart sowie den Größenverhältnissen der Originalquellen ermöglicht. In Berlin emanzipierte sich das verwendete Referenzmaterial dahingehend, dass das Kunstwerk schließlich als Summe seiner Referenzen eigenständig wurde. Demgegenüber zeigt die Ausstellung in München eine Reihe von Objekten, die sich weigern, irgendetwas außer ihrer eigenen Materialität zu kommunizieren. Damit liefert die Ausstellung eine referentielle Implosion. In der Gesamtschau zeigen diese beiden Stränge die unterschiedlichen Pole, zwischen denen Willem de Rooij seine ästhetische Syntax innerhalb einer komplexen und stets anregenden künstlerischen Praxis webt.
Kunstverein München
Galeriestr. 4
8O539 München
kunstverein-muenchen.de
PT
Kataloge/Medien zum Thema:
Willem de Rooij
Galerie Parterre
Verein Berliner Künstler
Galerie Alte Schule im Kulturzentrum Adlershof
Haus am Kleistpark
Alfred Ehrhardt Stiftung