Der Mensch braucht Gewissheiten und verlässliche Parameter. Er strukturiert, vermisst, vergleicht und schafft Ordnung, um die eigene Lebenswirklichkeit in erklärbare Modelle zu übersetzen. Jedoch sind diese vom Menschen erschaffenen Ordnungssysteme stets gesellschaftliche Vereinbarungen, die sich tradiert und etabliert haben, die jedoch immer auch anders sein könnten. Die Ausstellung Geordnete Verhältnisse versammelt künstlerische Positionen, die bestehende Welterklärungsmodelle reflektieren oder ganz neue Ordnungssysteme definieren. So entstehen überraschende Bildmetaphern, die neue Perspektiven auf die komplexen Zusammenhänge unserer Welt anbieten.
Eine Fotografie des Nachthimmels über ihrem Atelier ist Ausgangspunkt für die sechsteilige Werkreihe Oh Be A Fine Girl Kiss Me von Toulu Hassani (*1984 in Ahwaz/Iran). Eine der Leinwände zeigt den Sternenhimmel in seiner Ganzheit; die anderen fünf Gemälde zeigen Ausschnitte des nächtlichen Firmaments. Diese kombiniert die Künstlerin mit abstrahierten grafischen Darstellungen von Sternspektren, die sie mit einer Airbrush-Technik malerisch umsetzt. Der Titel ihrer Werkreihe verweist auf eine Pionierarbeit amerikanischer Astronominnen am Harvard College Observatory: Anfang des 20. Jahrhunderts gelang es den Frauen, anhand von Fotografien Sternspektren und Helligkeitswerte zu erfassen und zu katalogisieren. „Oh Be A Fine Girl Kiss Me“ diente dabei als Merkspruch zur Klassifizierung der Sterne.
Gedanken über die Unendlichkeit des Weltraums sind bisweilen wie Gedanken über die Zeit: Beides erscheint in letzter Konsequenz nicht vorstellbar. Auch für die Zeit hat der Mensch immer wieder Modelle erschaffen, die versuchen, diese begreifbarer zu machen. So abstrahieren beispielsweise ein Kalender und eine Uhr das komplexe Phänomen. Von der Konzeptkünstlerin Hanne Darboven (*1941 in München; †2009 in Hamburg) zeigt die Kunsthalle Nürnberg das aus 101 Blättern bestehende Kalenderbuch 92: Die fotografischen Aufnahmen der Kalenderseiten, die die Künstlerin mit Termineintragungen, kurzen Notaten und wellenförmigen Schreiblinien füllte, visualisieren auch das Werden und Vergehen der Zeit.
Die Serie Vom Mähen zum Frieden von Alex Müller (*1969 in Düren) erscheint wie ein gezeichnetes Tagebuch. Immer ein Blatt im Format DIN A3, immer eine Zeichnung pro Tag: Basierend auf diesem Standard entwickelt sich eine Visualisierung für ein konkretes Zeitfenster. Das erste Blatt Tag 1 c. Mähen entsteht am Tag der Krebsdiagnose ihres Vaters. Die letzte Zeichnung Tag 107 c. Peace erfolgt 107 Tage später an seinem Todestag. Dieses für die Künstlerin einschneidende Ereignis fällt in die Zeit, in der sich die Welt und unser Zusammenleben durch Covid-19 verändert. So dokumentieren die 107 Blätter auch den Wunsch der Künstlerin, einer als unkontrollierbar empfundenen Situation eine Struktur zu geben.
Ein Zufluchtsort war für Erwin Hapke (*1937 in Ostpreußen; †2016 in Fröndenberg) sein Elternhaus im Kreis Unna. Hier faltet der promovierte Biologe – völlig zurückgezogen – über drei Jahrzehnte hinweg zehntausende Figuren aus Papier mit ebenso enzyklopädischem wie künstlerischem Anspruch. Insekten und andere Tiere, Menschen, Architekturen: Der Autodidakt Erwin Hapke entwirft mit seinen komplexen Faltcodes nicht nur für das Tierreich eine alternative Ordnung, sondern faltet sich eine Welt, deren Erschaffer und einziger Bewohner er war.
„1972 entstand ein erstes einzelnes Bild vom Glas. Seit 1974 entstehen jedes Jahr mindestens 50 Bilder, die ein leeres Wasserglas auf weißer Tischfläche vor weißem Hintergrund zeigen. Das gemalte Glas ist in natürlicher Größe im Bild. Die äußeren Verhältnisse, wie Beleuchtung, Entfernungen, Bildformat bleiben unverändert.“ So beschreibt Peter Dreher (*1932 in Mannheim; †2020 in Freiburg) den Ausgangspunkt für seine konzeptuelle Bildserie Tag um Tag guter Tag, die er über drei Jahrzehnte fortführt und in deren Kontext über 5.000 kleinformatige Gemälde des stets gleichen Wasserglases entstehen. Durch die permanente Wiederholung wird die Malerei inhaltslos und ist nur noch der Malerei verpflichtet, der Malerei am Beispiel eines Glases. Die Kunsthalle Nürnberg zeigt 45 Bilder dieses beeindruckenden Opus magnum von Peter Dreher.
Ein einfaches Wasserglas steht auch im Zentrum der Fotoserie Stilles Wasser von Sophia Pompéry (*1984 in Berlin), in der die Künstlerin mit Wahrnehmungstäuschungen spielt. So scheint das Glas über einer Tischkante zu schweben oder einen unmöglichen Schatten zu werfen. Die wahrnehmungspsychologische Irritation führt zu einer Hinterfragung optischer und physikalischer Gewissheiten. Ihre installative Arbeit Worlds zeigt Reliefkarten unterschiedlicher Formate, wie wir sie aus dem Geografieunterricht kennen. Diese wurden mit Tafelfarbe vollständig übermalt, so dass Grenzen, Flussläufe, Gewässer, Städte und Straßennetze nicht länger sichtbar sind und Platz für imaginäre Weltentwürfe bieten.
Kunsthalle Nürnberg
90402 Nürnberg
www.kunsthalle.nuernberg.de
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