Spätestens beim Besuch der documenta 14 in Kassel und Athen haben Hiwa Ks installative Arbeiten eine breite mediale Aufmerksamkeit bewirkt – die großen Betonröhren als Formen der Behausung aus »When We Were Exhaling Images« (2017) und die filmischen Werke »View from Above« (2017) im Stadtmuseum Kassel sowie »Pre-Image (Blind as the Mother Tongue)« (2017) in Athen. Letztere Videoarbeit wird nun auch in Hannover zu sehen sein und
betitelt zeitgleich die Einzelausstellung des Künstlers im New Museum in New York.
Die umfangreiche Einzelausstellung des kurdisch-irakischen Künstlers Hiwa K im Kunstverein Hannover entstand in Kooperation mit dem belgischen Museum für zeitgenössische Kunst in Gent (Stedelijk Museum voor Actuele Kunst, S.M.A.K.). Der 1975 im nordirakischen Kurdistan geborene Künstler reflektiert in seinen Videoarbeiten und Installationen politische Ereignisse und kulturhistorische Phänomene, die er in seinen poetischen Werken miteinander verknüpft. Zeitlichkeit im stetigen Bezug zur Geschichte und nicht zuletzt seine eigene Flucht dienen hierbei als Matrize oder Ausgangsmaterial. Die Frage nach geografischer Verortung, die Suche nach Orientierung oder das Sich-Gewahrwerden spielen in vielen Werken des Künstlers eine tragende Rolle, der einmal berichtete, so etwas wie eine »Heimat« sei in seinen Füßen verortet.
Hiwa K, Mitglied einer Migrantengeneration der 1990er Jahre, die illegal aus dem nordirakischen Kurdistan zu Fuß nach Europa kam, stellt das Gehen durch die Fremde und das SichZurechtfinden in der ungewohnten Umgebung in den Mittelpunkt seiner Arbeit »Pre-Image (Blind as the Mother Tongue)«. Als Navigationsapparat dient ihm eine Stange mit montierten Fahrrad-, Auto- und Motorradspiegeln, die er auf Nasenbein und Stirn balanciert. Die
Spiegel werden als eine Weiterführung der Sinnesorgane verwendet – zum einen um einen Blick auf die fremde Umgebung zu werfen, zum anderen als Reflexion seiner selbst, die jedoch immer bruchstückhaft bleibt. Diese »Pre-Images«, also »Vor-Bilder«, die als Vorstellungen vor dem Herausbilden des eigentlichen Bildes entstehen, sind gewissermaßen Puzzlestücke, die auf eine Zukunft ohne jegliche Sicherheit verweisen, denn der Schreitende kann
weder nach vorne noch zurückblicken.
Beobachtungen sind wesentliches Ausgangsmaterial für Hiwa K. Er nutzt sich als Material, um stellvertretend als metaphorischer Protagonist zu fungieren, der sowohl physischperformativ als auch philosophisch die Gegenwart und hierin vorhandene Verweise auf historische Kontexte auf beeindruckende Weise offenbart.
So sind die Werke Hiwa Ks oftmals Reaktionen auf Situationen sowie auch auf gesellschaftlich und politisch vielschichtige Kontexte: Als er 2010 von der Serpentine Gallery eingeladen wurde, ein Konzert seiner Band »Chicago Boys« am Speaker’s Corner im Londoner Hyde Park zu realisieren, entstand die Arbeit »It's Spring and the Weather Is Great, So Let´s Close All Object Matters« (2012). Der Speaker’s Corner ist eng mit dem Gedanken der freien Meinungsäußerung verknüpft, und seit 1872 verleiht man seiner Meinung dort Ausdruck, indem man mittels einer Leiter aus einer erhöhten Position Aufmerksamkeit erzeugt. Dieser Brauch beruht jedoch auf keiner Selbstverständlichkeit, denn vom 12. Jahrhundert bis 1783 fanden in einem Teil des Hyde Parks Hinrichtungen – häufig von Oppositionellen – statt, die kurz vor dem Tod hier die letzte Möglichkeit nutzten, sich Gehör zu verschaffen. In beiden historischen Verwendungsarten dieses Ortes wird auf den Akt der Erhöhung zur öffentlichen Kundgebung zurückgegriffen, und diese Tradition nutzt Hiwa K, indem er mit den Musikern sieben mit Musikinstrumenten und Mikrofonen ausgestattete Leiter-Podeste aufstellt. Die ursprünglich als performativ geplante Arbeit wird aufgrund der Absage des Konzerts zu einer ortsbezogenen Installation, die die Spannung zwischen individuellen und gemeinsamen Erfahrungen und Ereignissen behandelt.
Zusätzlich zu existierenden Arbeiten werden für den Kunstverein zwei raumgreifende Installationen realisiert: inspiriert von dem Werk »My Father’s Colour Period« (2013) nutzt Hiwa K die markanten Fenster des Künstlerhauses als Screens, um das Sonnenlicht farbig in den Raum zu leiten. Monumental erstreckt sich schließlich die Sandarbeit »What the Barbarians Did Not Do, Did the Barberini« (2012), die formal Bezug auf das Pantheon nimmt und inhaltlich hieraus dessen Diskurs zum zwiespältigen Charakter des Materials Bronze – zum Zwecke von Kunstschaffung und Waffenherstellung – aufgreift und geografisch bis in den Irak ausweitet.
Schließlich ist in der titelgebenden Arbeit dieser Ausstellung »Moon Calendar« (2007) Hiwa K in einer Halle des irakischen Gefängniskomplexes Amna Souraka tanzend zu sehen, während er mittels eines Stethoskops den Takt seines Herzschlags verfolgt und wie eine Transkription in Flamenco-Schritte an den Boden weiterleitet. So entsteht ein Prozess, der den Künstler bei jedem Schlag und Gegenschlag an seine Positionierung sowie Taktung innerhalb dieses kontextbeladenen Umraums erinnert.
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