El Anatsuis Überblicksausstellung "Triumphant Scale" im Haus der Kunst ist seine erste Überblicksausstellung in Europa, und die bislang umfangreichste Ausstellung seines Werks. Sie erstreckt sich auf den gesamten Ostflügel des Hauses und zeigt zentrale Werke aus fünf Jahrzehnten künstlerischen Schaffens. Im Mittelpunkt der Ausstellung, die sich auf das Triumphale und Monumentale konzentriert, stehen die typischen Arbeiten aus Flaschenverschlüssen aus den letzten zwei Jahrzehnten – Werke von imposanter Präsenz und in schillernden Farben. Daneben werden auch die weniger bekannten Holzskulpturen und Wandreliefs von Mitte der 1980er- bis zu den späten 1990er-Jahren gezeigt, Keramikskulpturen aus den 1970er-Jahren sowie Zeichnungen, Drucke und Skizzenbücher.
Die Ausstellung zeigt El Anatsuis unermüdliche Beschäftigung mit der Frage, wie aus den reichhaltigen plastischen Innovationen klassischer und traditioneller afrikanischer Kunst ein zeitgenössisches Skulpturkonzept entwickelt werden kann. Beharrlich hat El Anatsui auf eine Transformation der formalen und plastischen Möglichkeiten des afrikanischen skulpturalen Idioms hingearbeitet und sein Material und seine Kompositionstechniken immer wieder und mit erstaunlichem Effekt neu formatiert – von den frühen kleineren, mit gekratzten Markierungen versehenen Holzreliefs und zerbrochenen Keramikformen bis zu den monumentalen Zementskulpturen unter freiem Himmel und den jüngsten sehr großen, spektakulären Wand- und Bodenarbeiten aus Metall, die die Grenzen zwischen Plastik, Malerei und Assemblage verwischen. Unter El Anatsuis Händen verschmelzen Licht, Form, Farbe, Transparenz und Körperlichkeit zu beeindruckenden und triumphalen Kunstwerken.
El Anatsuis Broken Pot-Serie aus den 1970er-Jahren zeichnet sich durch den Einsatz von negativem Raum und durch Fragmentierung als Strukturprinzip aus und ist als metaphorische Aussage über Leben, Geschichte und Gedächtnis zu lesen. Die Holzarbeiten des nächsten Jahrzehnts stellen Intimität her, und zwar weniger durch ihre verhältnismäßige Kleinheit als vielmehr durch die eingeritzten Markierungen, die von den Adinkra-Zeichen der Akan, den Uli-Motiven der Igbo oder durch westafrikanische Schreibsysteme wie die Nsibidi-, Bamun- und Vai-Schriften inspiriert sind. Die Holzskulpturen weisen auch charakteristische gestische Markierungen auf, die mit einer Kettensäge angebracht wurden. Die etwa ab 2000 entstandenen Metallskulpturen schließlich überwältigen den Betrachter durch ihre Pracht und imposante Größe, faszinieren aber, wenn man näher herangeht, auch durch ihre juwelenartigen Details.
Die Verwendung von gefundenem Material ist für El Anatsui von grundlegender Bedeutung: "Ich habe mit vielen Materialien experimentiert. Ich arbeite auch mit Material, das viel Berührung und Verwendung durch Menschen erlebt und erfahren hat ..., und diese Arten von Material und Arbeit sind stärker aufgeladen als bei Materialien/Werken, bei denen ich mit Maschinen gearbeitet habe. Kunst erwächst aus jeder spezifischen Situation, und ich glaube, Künstler sollten besser mit dem arbeiten, was ihre jeweilige Umgebung gerade bereitstellt." (El Anatsui, 2003) Die abgenutzten Oberflächen der verwandelten Objekte wirken zunächst wie eine Meditation über die Vergänglichkeit, doch wie Okwui Enwezor festgestellt hat, erweitert El Anatsui die Möglichkeiten im Medium Skulptur fundamental, indem er auf jedes Material reagiert, "als habe er es eben erst im Fluss von Zeit und Geschichte entdeckt".
El Anatsui generiert Bedeutung aus dem Material und seinem technischen Prozess. So stammen etwa die Flaschenverschlüsse, die er verwendet, von Spirituosen, die Europäer nach Afrika gebracht haben und zwar als Währung – und damit als Mittel der Unterdrückung – in der Zeit des transatlantischen Sklavenhandels und des Kolonialismus.
Das Schneiden, Flachschlagen, Zusammendrücken, Drehen, Falten und Zusammenfügen von Tausenden dieser Flaschenverschlüsse, zusammen mit dem Kupferdraht, der die einzelnen Elemente zu einem Gesamtwerk verbindet, erzählt von menschlichen Gemeinschaften, die aus miteinander verbundenen Subjektivitäten bestehen.
El Anatsuis Werk ist geprägt von dem Wechselspiel zwischen philosophischen und ästhetischen Diskursen von Kunst und Literatur im postkolonialen Afrika. 1962 fand die maßgebliche „Conference of African Writers of English Expression“ im Makarere College (heute Makarere University) in Kampala, Uganda, statt, die sich auf Sprache und neue afrikanische Literatur konzentrierte. Unter den Teilnehmer/innen fanden sich militante Nationalisten, die europäische Sprachen als Medium für afrikanische Literatur ablehnten, bis hin zu Internationalisten, die globale literarische Traditionen als Inspiration betrachteten. Trotz dieser unterschiedlichen Ansätze teilten sie die Überzeugung, dass die westliche Moderne nicht passiv als einziges Vorbild für die neue afrikanische Literatur akzeptiert werden konnte. In ähnlicher Weise versammelte der Mbari Artists and Writers Club in Ibadan führende Künstler und Schriftsteller des Kontinents, die sich mit Produktion und Diskussion von Werken der postkolonialen Moderne befassten. Neben Schriftstellern wie Chinua Achebe, Wole Soyinka, Es’kia Mphahlele und Christopher Okigbo (in Makerere) waren auch die Künstler Demas Nwoko and Ibrahim El Salahi Mbari-Mitglieder, ebenso Vincent Kofi, El Anatsuis Mentor, und Uche Okeke, der ihn 1975 nach Nsukka einlud.
Ortspezifische Werke für das Haus der Kunst
Fasziniert von der Monumentalarchitektur des Museums, hat El Anatsui drei Arbeiten eigens für diese Ausstellung geschaffen: Die Skulpturen „Logoligi Logarithm“ und „Rising Sea“ im Innenbereich und die Installation „Second Wave“ an der Fassade. „Logoligi Logarithm“ besteht aus ca. 65 Einzelteilen aus Aluminium und Kupferdraht und wurde für den größten Saal des Ostflügels konzipiert, wo es eine Art begehbares Labyrinth bildet. Dabei ergeben sich verschiedene Perspektiven ebenso wie zahlreiche Achsen und Spiele von Licht und Schatten. Die Arbeit ist dem ghanaischen Dichter Atukwei Okai (1941-2018) gewidmet.
„Rising Sea“ ist eine acht Meter große, weiße Wand- und Bodenarbeit, die trotz ihrer hinreißenden Schönheit einen Kommentar zu Erderwärmung und drohenden Katastrophen darstellt.
„Second Wave“, die etwa 110 Meter breite Installation an der Außenfassade, besteht aus mehreren tausend Offsetdruckplatten aus einer Münchner Druckerei, in der eine große Tageszeitung hergestellt wird, sowie aus einer Druckerei in Bozen, die Kunstbücher produziert. Die Druckplatten wurden gefaltet, gedrückt, überlagert, vernietet, gebogen, gewölbt und zu 22 zehn Meter hohen und vier Meter breiten Paneelen verschweißt, die durch Brückenelemente verbunden sind. „Second Wave“ vereint eine starke Körperlichkeit mit struktureller Unbestimmtheit. Okwui Enwezor sagt, dass diese Installation die beliebte afrikanische Lebensregel ‘kein Zustand ist permanent‘ beschwört.
Eine Ausstellung des Haus der Kunst, München. Kuratiert von Okwui Enwezor, ehemaliger Direktor am Haus der Kunst, und Chika Okeke-Agulu, Professor am Department of Archaeology and Art History der Universität Princeton; Assistenz Damian Lentini, Kurator am Haus der Kunst.
Stiftung Haus der Kunst München, gemeinnützige Betriebsgesellschaft mbH
Prinzregentenstraße 1
80538 München
Germany
www.hausderkunst.de
Presse
Kataloge/Medien zum Thema:
El Anatsui
Kunsthochschule Berlin-Weißensee
Freundeskreis Willy-Brandt-Haus e.V.
Freundeskreis Willy-Brandt-Haus e.V.
Galerie im Saalbau
Galerie Alte Schule im Kulturzentrum Adlershof