Die Geschichten von Schaufensterdekoration und Bildender Kunst sind eng miteinander verwoben. Neben Jean Tinguely setzten zahlreiche Künstler:innen wichtige Impulse im Bereich der Schaufenstergestaltung. Andererseits taucht das Schaufenster immer wieder als Motiv in Kunstwerken auf oder dient als Bühne für Performances und Aktionen. Ebenso lassen sich politische und soziale Entwicklungen an Schaufenstern ablesen, prägen sie doch seit dem späten 19. Jahrhundert das westliche Stadtbild und sind Spiegel sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse und einer sich verändernden Nutzung des öffentlichen Raums. Als erste Museumsausstellung widmet sich Fresh Window.
Kunst & Schaufenster der Verschränkung von Kunst und Schaufensterdesign und spannt den Bogen vom Aufstieg des Kaufhauses um die Jahrhundertwende bis zu den heutigen, exklusiven Luxusboutiquen der Gegenwart. Die Vielschichtigkeit des Themas wird vom 4. Dezember 2024 bis 11. Mai 2025 im Museum Tinguely mit Beiträgen von rund 40 Künstler:innen des 20. und 21. Jahrhunderts präsentiert und bietet dabei Gelegenheit, Künstler:innen wie Jean Tinguely, Sari Dienes, Robert Rauschenberg, Jasper Johns und auch Andy Warhol von einer viel weniger bekannten Seite zu entdecken. Mit künstlerischen Interventionen in Basler Schaufenstern wird das Projekt zusammen mit
ehmaligen Studierenden dess Instituts Kunst Gender Natur der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW vom 14. Januar bis 2. März 2025 zusätzlich in den Stadtraum getragen und auch ausserhalb des Museums erlebbar.
Das Schaufenster als Ort künstlerischer Experimente
Die vielschichtige und spielerische Auseinandersetzung mit dem Thema kommt bereits im Titel Fresh Window zum Ausdruck, der auf Marcel Duchamps Arbeit Fresh Widow (1920) verweist. Das Werk steht stellvertretend für ein wichtiges Kapitel der Ausstellung, das die Funktion des Fensters als verbindende, vermischende und trennende Membran thematisiert, die den Voyeurismus und das damit verbundene Begehren anzieht oder zurückweist. Als architektonisch-funktionaler Raum schlägt das Schaufenster auch eine Brücke zu musealen Präsentationsformen – vom Bilderrahmen bis zur Bühne für Performance und Aktionskunst.
Die Künstler:innen thematisieren das Schaufenster auch als gesellschaftlichen Spiegel. Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse, Gentrifizierung und westliche Konsumkultur sowie Kapitalismuskritik können hier ebenso hinterfragt werden wie eine Auseinandersetzung mit dem Schaufenster als Bühne für politische, soziale und urbane Veränderungen. Das Schaufenster ist ein Ort der Interaktion, des Dialogs und der Begegnung. Viele Künstler:innen haben mit der Gestaltung von Schaufenstern nicht nur ihren Lebensunterhalt verdient, sondern nutzten diese auch als Experimentierfeld, um neue Verbindungen zwischen Kunst und Öffentlichkeit zu erproben. Angesichts der Tatsache,
dass die Innenstädte durch die zunehmende Digitalisierung und den Aufstieg des Online und Versandhandels immer mehr mit Leerstand zu kämpfen haben, erhält das Thema zudem eine aktuelle, gesellschaftliche Relevanz.
Das Schaufenster – Kunst trifft auf Kommerz
Als das Schaufenster im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem zentralen Instrument der modernen Konsumkultur aufstieg, setzten sich bald auch Künstler:innen mit dem neuen Phänomen auseinander. Nachdem Marcel Duchamp bereits 1920 mit seiner Arbeit Fresh Widow die Funktion und Bedeutungsebenen des Fensters ad absurdum geführt hatte, gestaltete er 1945 anlässlich einer Buchveröffentlichung von André Breton erstmals ein Schaufenster in New York. Zu dieser Zeit beendete Jean Tinguely seine Lehre an der Kunstgewerbeschule und war bereits als professioneller Schaufensterdekorateur in Basel tätig. In seinen häufig aus Draht geschaffenen Dekorationen klingt bereits seine spätere
künstlerische Handschrift an.
Im New York der 1950er Jahre spielte der Art Director Gene Moore des Warenhauses Bonwit Teller und des Juweliergeschäfts Tiffany & Co. eine wichtige Rolle, da er das Talent junger, noch unbekannter Künstler:innen förderte. So wählte er zum Beispiel Werke von Sari Dienes oder Susan Weil für seine Schaufensterauslagen aus oder beauftragte Robert Rauschenberg, Jasper Johns oder Andy Warhol mit aufwendigen Dekorationen, bevor diese in der Kunstwelt Fuss fassten. Einige dieser Schaufenster werden in der Ausstellung durch Fotografien dokumentiert oder originalgetreu rekonstruiert und können so nach rund 70 Jahren erstmals wiederentdeckt werden.
Umgekehrt wurde das Schaufenster als Motiv von Künstler:innen in zahlreichen Gemälden, Installationen, Skulpturen, Videoarbeiten und Fotoserien aufgegriffen. Richard Estes, Peter Blake oder Ion Grigorescu thematisierten in den 1960er und 1970er Jahren die bunte, üppige Welt des Kapitalismus. Die verführerische Funktion von Schaufenstern wird in Martina Morgers Performance Lèche Vitrines (2020) deutlich, die den französischen Begriff des «Schaufensterbummels» wörtlich übersetzt. Christo spielte mit den verhängten Fenstern in seinen Store Fronts (1964-68) mit dem Aspekt des Voyeurismus und der skulpturalen Eigenschaft des Schaufensters. Die szenografische Meisterschaft des traditionellen Dekorationshandwerks wird in den Street Vitrines (2020) von Atelier E.B alias Beca Lipscombe und Lucy McKenzie oder in der Videoarbeit Did you know you have a broken glass in the window? (2020) von Anna Franceschini aufgegriffen.
Das Schaufenster als gesellschaftlicher Spiegel
Auch die Rolle des Schaufensters als Spiegel der Gesellschaft, der zugleich das Stadtbild entscheidend prägt, wird von den in der Ausstellung präsentierten Künstler:innen thematisiert. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentierten Eugène Atget in Paris und Berenice Abbott in New York die Fronten verschiedener Geschäfte. Dass sich anhand von Schaufensterdekorationen auch politische Veränderungen nachvollziehen lassen, zeigen die Fotografien von Iren Stehlis, die sie von den 1970er bis in die 1990er Jahre in Prag aufgenommen hat. Martha Rosler bildet in ihrer Fotoserie Greenpoint: New Fronts (2015 bis heute) die Gentrifizierung ihres New Yorker Heimatquartiers ab. In ihrem Greenpoint Project (2011) porträtierte sie ausserdem die Menschen hinter den Scheiben. Damit zeigt sie die Bedeutung, die Läden in einem sozialen Gefüge einnehmen können – ein Aspekt, der auch in Tschabalala Selfs Serie Bodega Run (2015 bis heute) relevant ist. In Textil-, Neon- und Fotoarbeiten setzt sie sich mit der Geschichte und Kultur der Bodegas auseinander, in denen die verschiedenen Communitys New Yorks bei ihren Einkäufen aufeinandertreffen. Auf den zunehmenden Leerstand und die verwaisten Schaufenster heutzutage verweisen die fotorealistischen Gemälde von Sayre Gomez oder die filmisch-atmosphärischen Fotografien von Gregory Crewdson.
Mit Werken von Berenice Abbott, Marina Abramović, Atelier E.B. (Beca Lipscombe & Lucy McKenzie), Eugène Atget, Peter Blake, Christo, Gregory Crewdson, Vlasta Delimar, Sari Dienes, Marcel Duchamp, Elmgreen & Dragset, Richard Estes, Anna Franceschini, Kit Galloway & Sherrie Rabinowitz, R.I.P. Germain, Sayre Gomez, Ion Grigorescu, Nigel Henderson, Lynn Hershman Leeson, María Teresa Hincapié, Jasper Johns, John Kasmin, François-Xavier Lalanne, Bertrand Lavier, Martina Morger, Robert Rauschenberg, Martha Rosler, Giorgio Sadotti, Tschabalala Self, Johnnie Shand Kydd, Sarah Staton, Iren Stehli, Pascale Marthine Tayou, Jean Tinguely, Goran Trbuljak, Andy Warhol, Jiajia Zhang.
Museum Tinguely
Paul Sacher-Anlage 1
CH-4002 BASEL
www.tinguely.ch
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GEDOK-Berlin e.V.
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