Die Ausstellung ist eine Retrospektive in drei Teilen und an drei Orten: Brüssel, München und Bristol. Joëlle Tuerlinckx (geb. 1958 in Brüssel) zeigt Arrangements aus Skulpturen, Fundobjekten, Vitrinen, Fotografien sowie Collagen aus Papier, Zeitungsausschnitten und Zeichnungen. Dabei zitiert sie Konventionen, die wir nutzen, um Archivmaterial, oder allgemein: unser Wissen zu präsentieren. Sie erinnert mit Steinen an die Präsentation von Mineralien in Naturkundemuseen, mit Kompassen an Marinemuseen, und erweckt mit Zeitungsausschnitten den Eindruck, es handle sich um dokumentarisches Material.
Durch die fast exzessive Anhäufung von Material erzeugen einzelne Abschnitte den Eindruck von großer Fülle - etwa wenn Tuerlinckx für ihre Objekte so unterschiedliche Präsentationsformen wie Sockel, Petersburger Hängung und Projektionen zugleich nutzt. Die Arrangements ergeben jedoch kein enzyklopädisch, historisch oder analytisch angelegtes Ganzes. Kombiniert mit Papierkreisen, Zeichnungen, Fotografien oder einzelnen ausgeschnittenen Buchstaben, ist das Ergebnis vielmehr eine rein assoziative Erzählung über das Durchqueren von Räumen und das Erforschen von Zeitabschnitten.
Die Retrospektive trägt an jedem Ort einen anderen Titel: WOR(LD)K IN PROGRESS? hieß sie in Brüssel, WORLD(K) IN PROGRESS? heißt sie in München, und WOR(L)D(K) IN PROGRESS? in Bristol. Die Titel drücken den für jede Station anders gesetzten Schwerpunkt aus: den Fortschritt bezüglich Werk, Welthaltigkeit und Sprache, und den Zweifel an diesem Fortschritt. Im Haus der Kunst liegt die Betonung auf den Serien und den Arbeiten aus ihren ersten Ausstellungen, u.a. im Witte de With 1994. Tuerlinckx wird frühere Werke reaktivieren und mit ihnen neue Konstellationen schaffen. Im Treppenhaus z.B. entsteht eine Wandarbeit aus Bleistift-Schraffuren ("Espace barré", 2004 im Badischen Kunstverein, Karlsruhe).
Dass sich die Ausstellung von Station zu Station verändert, ist bei Joëlle Tuerlinckx Programm. "Wenn mir ein Ausstellungsraum angeboten wird ist es, als ob ich eine Art Paket bekomme, ein Päckchen Luft", sagt die Künstlerin über ihren Ansatz. Ausstellungen von Joëlle Tuerlinckx sind Beschreibungen, wie sich der leere Raum verändert, wenn er die Werke beherbergt, und lassen den Besucher an diesem Prozess teilhaben. Vergleichbar einem literarischen Manuskript, bei dem Handschrift und Korrekturen des Autors das leere Blatt allmählich füllen und darüber hinaus zum Prozess des Schreibens Auskunft geben, besetzt Tuerlinckx den leeren Raum mit ihrem künstlerischem Vokabular. Dabei trägt sie der Tatsache Rechnung, dass sich Ausstellungsräume je nach Institution unterscheiden.
Alle Versuche, sich auf herkömmliche Weise Sinn zu erschließen - sei es über den Titel einer Serie, die Auswahl von Zeitungsausschnitten, die Art der Präsentation eines Objekts - führen den Betrachter ´nur` an die Leere heran bzw. lenken seine Wahrnehmung auf die Grundbedingungen des Sehens. So bilden von Joëlle Tuerlinckx gestaltete Ausstellungsräume die Entsprechung zur konkreten Poesie, deren Gedichte nicht mehr von bestimmten Gedanken, Gefühlslagen, Ereignissen oder formalem Gestaltungswillen handeln, sondern die Realität des sprachlichen Produkts an sich zeigen. So, wie sich die Sprache der konkreten Poesie selbst darstellt, stellt Joëlle Tuerlinckx Konventionen des Ausstellens aus.
In einem alphabetischen Lexikon erläutert die Künstlerin begleitend zur Ausstellung Begriffe, die für sie von zentraler Bedeutung sind. Anders als in einem Lexikon finden sich hier jedoch keine um Genauigkeit bemühten Definitionen. Einen Schlüsselbegriff wie "Exposition / Ausstellung" dehnt sie so weit, bis er die Bedingung menschlicher Existenz umfasst: "Eine Ausstellung ist vor allem eine Erfahrung des Raums, die unter Umständen durch Objekte im Raum gemacht wird, welche einem anbieten, zu agieren oder zu reagieren, als Mittel zum Nachdenken, zum Bedenken dessen, was Menschsein bedeutet." Und der Eintrag zu "Rien / Nichts" lautet: "Das, was ist, wenn nichts mehr da ist. Von a zu a, einschließlich b, einschließlich dessen, was man sich unter a vorstellt." Nur in Hinblick auf die alphabetische Reihenfolge leistet das "Lexikon", was wir von einem Lexikon erwarten. Die sonst übliche Systematik akademischen Instrumentariums kommt nicht zur Anwendung. An ihre Stelle tritt eine poetische Qualität. Diese Vorgehensweise besitzt Ähnlichkeit mit der Pataphysik und ihren sinnfreien Parodien wissenschaftlicher Methoden; gleichzeitig steht sie in der Tradition von Künstlern wie Marcel Duchamp und Marcel Broodthaers, die u.a. die Mechanismen der Kunstbetrachtung untersucht haben.
Joëlle Tuerlinckx hat ihre Werke international u.a. im Reina Sofia, Palacio de Cristal, Madrid (2009), MAMCO in Genf (2007), The Drawing Center, New York (2006), und The Power Plant, Toronto (2005) gezeigt. In Deutschland ist sie durch die Teilnahme an der documenta 11 (2002) bekannt.
Die Ausstellung ist im Anschluss vom 07.12.2013 - 09.02.2014 im Arnolfini in Bristol zu sehen. Kuratoren sind Dirk Snauwaert (Wiels, Brüssel), Julienne Lorz (Haus der Kunst), Tom Trevor und Axel Wieder (Arnolfini). Der Katalog erscheint bei Walther König, mit Beiträgen von Julienne Lorz, Catherine Mayeur, Dirk Snauwaert, Tom Trevor und Joëlle Tuerlinckx.
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