In seiner forschungsbasierten und prozessorientierten Praxis beschäftigt sich Uriel Orlow (geb. in Zürich, lebt und arbeitet in London, Lissabon und Zürich) mit blinden Flecken in der Darstellung von Geschichte und den daraus resultierenden Fragen nach Restitution, u.a. der Rückführung der Erinnerung in die Gegenwart.
In der Kunst Halle Sankt Gallen präsentiert Orlow die gross angelegte Werkreihe Theatrum Botanicum (2015–2017), welche die botanische Welt als politische Bühne betrachtet. Aus den Blickwinkeln von Südafrika und Europa zeigt das Projekt Pflanzen als Zeugen und Akteure in der Geschichte, als dynamische Agenten, die Natur und Menschen, Tradition und Moderne verbinden – über verschiedene Geographien, Geschichten und Wissenssysteme hinweg.
Filme, Soundarbeiten,
Fotografien und Installationen beleuchten ‘botanischen Nationalismus‘ und andere Vermächtnisse des Kolonialismus, Pflanzenmigration, Biopiraterie, Blumendiplomatie während der Apartheid, die Rolle der Klassifizierung und Benennung von Pflanzen, aber auch den von Mandela und seinen Mitinsassen in Gefangenschaft auf Robben Island gepflanzten Garten.
Das Herzstück der Ausstellung bildet eine Video-Trilogie, welche die ideologische und kommerzielle Konfrontation zweier unterschiedlicher und doch ineinandergreifender Heiltraditionen sowie ihrer Verwendung von Pflanzen
erkundet (The Crown Against Mafavuke), Fragen nach dem Schutz von indigenem Urheberrecht nachgeht (Imbizo Ka Mafavuke (Mafavuke’s Tribunal)) und die Präsenz von Pflanzenheilkunde im postkolonialen Kontext dokumentiert (Muthi). Die Soundarbeit What Plants Were Called Before They Had a Name beispielsweise ist vor dem Hintergrund der Expeditionen zu verstehen, die dem europäischen Kolonialismus in Südafrika (und auch andernorts) vorausgingen und deren Ziele das Kartographieren des Gebiets und die Klassifizierung seiner natürlichen Ressourcen waren, welche wiederum den Weg für Besetzung und Ausbeutung ebneten. Die vermeintliche Entdeckung und die anschliessende Katalogisierung von Pflanzen missachtete bestehende indigene Namen und botanisches Wissen und löschte diese letztlich aus, indem Linnés System der Klassifizierung mit seiner spezifischen europäischen Rationalität aufgezwungen wurde. What Plants Were Called Before They Had a Name fungiert als mündliches Pflanzen-Wörterbuch indigener südafrikanischer Sprachen wie Khoi, SePedi, SeSotho, SiSwati, SeTswana, xiTsonga, isiXhosa und isiZulu.
Im Keller der Bibliothek des Kirstenbosch National Botanical Garden in Kapstadt gefundenes Filmmaterial verwendete Orlow als Ausgangspunkt für die Videoarbeit The Fairest Heritage. Die Filme waren 1963 anlässlich des
50. Jahrestags der Gründung des Gartens in Auftrag gegeben worden, um unter anderem seine Geschichte zu dokumentieren, ebenso wie die Jubiläumsfeierlichkeiten mit ihren ‘nationalen’ Tänzen, Pantomimen kolonialistischer Eroberung und Besuchen internationaler Botaniker*innen; die einzigen Afrikaner*innen in den Filmen sind Arbeiter*innen. Da Blumen als neutral und passiv gelten, waren sie vom Boykott lange ausgeschlossen und ‘botanischer Nationalismus‘ und Blumendiplomatie gediehen unkontrolliert im In- und Ausland. Orlow arbeitete für The Fairest Heritage mit einer Schauspielerin zusammen, die sich und ihren Körper in diese aufgeladenen Bilder begibt, das gefundene Filmmaterial bewohnt, ihm entgegentritt und dadurch die Geschichte und das Archiv selbst in Frage stellt.
«Theatrum Botanicum» wirft nicht nur einen tiefgründigen Blick auf Kolonialismus und neue Geschichtsschreibung, sondern bietet auch die Möglichkeit, sich eingehend mit der Arbeitsweise Uriel Orlows auseinanderzusetzen.
Uriel Orlow (*1973 in Zürich) lebt und arbeitet in London, Lissabon und Zürich. Er studierte am Central Saint Martins College of Art & Design London, der Slade School of Art sowie der Université de Genève, und promovierte 2002 in Bildender Kunst.
Einzelausstellungen (Auswahl): PAV – Parco Arte Vivente, Turin/IT (2017); Parc Saint Léger – Centre d’Art Contemporain, Pougues-les-Eaux/FR (2017); The Showroom, London/UK (2016); Castello di Rivoli, Turin/IT (2015); John Hansard Gallery, Southampton/UK (2015); Depo, Istanbul/TR (2015). Orlows Werke wurden international in zahlreichen Museen und Galerien ausgestellt, u.a. in London/UK (Tate Modern, Tate Britain, Whitechapel Gallery, ICA und Gasworks), Paris/FR (Palais de Tokyo, Fondation Ricard, Maison Populaire, Bétonsalon), Zürich/CH (Kunsthaus, Les Complices, Helmhaus und Shedhalle) sowie Genf/CH (Centre d’Art Contemporain und Centre
de la Photographie).
Des Weiteren war er mit seinen Arbeiten u.a. an folgenden Übersichtsausstellungen vertreten: 7. Moskauer Biennale, Moskau/RU (2017), Sharjah Biennale 13, Sharjah/UAE (2017), Manifesta 9, Genk/BE (2012); 54. Biennale di Venezia, Venedig/IT (2011). Orlows Filme wurden u.a. an den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen/DE, am Locarno Festival, Locarno/CH, an der Videoex, Zürich/CH, am Centre Pompidou, Paris/FR; am BFI London Film Festival, London/UK; im Kino der Kunst, München/DE; am Visions du Réel, Nyon/FR sowie an der Biennale de l’Image en Mouvement, Genf/CH gezeigt.
Kunst Halle Sankt Gallen
Davidstrasse 40
CH-9000 St. Gallen
k9000.ch
Presse
Kataloge/Medien zum Thema:
Uriel Orlow
Haus am Kleistpark
Kommunale Galerie Berlin
a|e Galerie - Fotografie und zeitgenössische Kunst
Kommunale Galerie Berlin
Meinblau Projektraum