Dialektik der Präsenz - lautet der Titel der Ausstellung, die der Künstler und Kunstwissenschaftler Hans Dieter Huber auf Einladung der Kunststiftung DZ BANK in den vergangenen zwei Jahren entwickelt hat. Darin spürt er dem Spannungsfeld zwischen Anwesenheit und Abwesenheit in fotografischen Kunstwerken nach. Was bedeutet Präsenz und wie tritt sie in Kunstwerken zutage? Wann und wie nehmen wir Präsenz wahr? Und kann etwas, das nicht zu sehen ist, dennoch präsent sein?
Hans Dieter Huber nähert sich in seiner Ausstellung in fünf Abschnitten verschiedenen Lesarten, für die er insgesamt 45 Kunstwerke von 30 Künstlerinnen und Künstlern aus der Sammlung der DZ BANK zusammengetragen hat. Er beginnt seinen Ausstellungsrundgang im Durchgang zur Ausstellungshalle mit Arbeiten, in denen die titelgebende »Dialektik der Präsenz« zunächst in den Motiven sichtbar wird: So stellt Claudia Angelmaier (* 1972, Göppingen, BRD) in ihrer Arbeit »Drei Lindenbäume«, 2004 die Frage nach der Präsenz des originalen Bildes in Reproduktionen. Ihre Aufnahme von mehreren über- und nebeneinander arrangierten aufgeschlagenen Kunstbüchern zeigt fünfmal das gleiche Motiv – das berühmte Aquarell »Drei Lindenbäume auf einer Wiese« von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1494 – und doch hat jede Reproduktion durch die unterschiedlichen fotografischen und drucktechnischen Verfahren eine eigene Erscheinung und Farbigkeit: mal rötlicher, mal grüner, mal heller, mal dunkler. Es drängt sich die Frage auf, wie das Original tatsächlich aussieht und wie sehr man einer Reproduktion überhaupt trauen kann. Während Claudia Angelmaier also über die Konfrontation mit verschiedenen Reproduktionen aufzeigt, dass Kunstwerke nur im Original erfasst werden können, verweisen Leerstellen in den Arbeiten von John Hilliard (* 1945, Lancaster, England, Vereinigtes Königreich) auf das Paradox, dass genau das, was nicht gezeigt wird, Präsenz erlangt. Für seine Arbeit »Off Screen (No. 5)« aus dem Jahr 1999 hat der Künstler das abgelichtete Filmpublikum hinter die Leinwand »umpositioniert« und lässt es aufmerksam auf die Rückseite einer leeren Projektionsfläche schauen. Die ausgerollte weiße Leinwand wird so für uns Betrachterinnen und Betrachter zu einer Leerstelle, die durch unsere Fantasie aufgefüllt werden muss.
In den sich daran anschließenden Werken geht es um die Frage, wie sich die Wahl des Materials und der angewandten fotografischen Verfahren im bildlichen Resultat niederschlägt und damit »präsent« wird. Timo Kahlens (* 1966, Berlin, BRD) »Phosphor-Photographien«, 1992 sind beispielsweise als leuchtende ›Nach-Bilder‹ konzipiert. Dafür baut sich der Künstler zunächst selbst eine Camera obscura aus denkbar einfachen Materialien: verwendet werden ein Pappkarton, Klebeband und eine Linse. An die hintere Innenwand, also jenen Bereich im Kamerakasten, in dem sich normalerweise der Negativfilm befindet, setzt Timo Kahlen eine Glasplatte, die er zuvor mit phosphoreszierendem Material mehrfach beschichtet hat. Phosphoreszenz ist ein fotophysikalischer Prozess, bei dem durch die kurze Einwirkung von UV-Licht im Dunkeln ein (Nach-)Leuchten hervorgerufen wird. Als Motiv seines Experiments wählte er den Blick in einen Garten. Durch den Einfall des Lichts in das Kamera-Innere wird auf diese Weise auf dem Glasträger ein Leucht-Bild der Gartenmöbel erzeugt: Nach einer ca. 30-sekündigen Belichtung der beschichteten Glasplatte setzt im Dunkel der wieder verschlossenen Pappkamera ein grünes Nachleuchten des chemischen Stoffes ein, das nach kurzer Zeit wieder verlischt. Dieses ›Nach-Bild‹, den Prozess des Leuchtens und Erlöschens, in dem sich das Bild ständig verändert, hält Timo Kahlen dann mit einer gewöhnlichen, industriell hergestellten Kamera fest.
Ein weiterer Aspekt der Ausstellung ist das Zeigen und Verbergen des eigenen Selbst, wie es etwa in den Arbeiten von Loredana Nemes (* 1972, Sibiu (Hermannstadt), Rumänien) umgesetzt wird. 2009 fotografiert die Künstlerin für ihre Werkreihe »beyond« männliche Besucher der türkischen und arabischen Kaffeehäuser in Berlin. Mit ihrer Linhof-Plattenkamera nimmt sie Fassaden von Kaffeehäusern und Teestuben in den Berliner Stadtteilen Wedding, Neukölln und Kreuzberg auf und porträtiert die Gäste durch die Milchglasscheiben oder Gardinen, mit denen das Interieur der Cafés gegen die Blicke der Öffentlichkeit abgeschirmt wird. Die Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen nur schemenhaft die Gesichter und das Geschehen in den Rückzugsorten der »Männerwelt«, zu dem Nicht-Mitgliedern und Frauen der Eintritt verwehrt bleibt. Vielleicht gelingt es Loredana Nemes gerade durch ihre distanzwahrende Aufnahme, in der sie den Porträtierten eine Abwesenheit, ein »nicht alles Preisgeben« in ihrer Anwesenheit zugesteht, den Männern in ihren Fotografien Präsenz zu verleihen.
Durch die Verbindung von Text und Bild werden der Bildwahrnehmung weitere Assoziationsebenen hinzufügt. So besteht beispielsweise »Le Drap« aus der Reihe »L’Autobiographie« von Sophie Calle (* 1935, Paris, Frankreich) aus einer großformatigen Detailaufnahme eines Bettlakens und einer kleineren Texttafel, auf der wir Sophie Calles autobiografisch formulierte Erzählung zum abfotografierten Laken lesen können. Bild und Text bedingen einander, zwischen den aufgeschriebenen Erinnerungen und dem Gesehenen entsteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Es ist – wie meist in Sophie Calles Arbeiten – eine sehr persönliche Erinnerung, die sie in dem Zusammenspiel von Bild und Wort entwickelt und durch die sie uns ein »Bild« ihrer Person zu vermitteln scheint und so für uns präsent wird.
Der hintere Raum der Ausstellungshalle ist dagegen dem Moment der Inszenierung gewidmet. Dass Präsenz nämlich auch ein Moment der Darstellung sein kann, zeigt die US-amerikanische Künstlerin Cindy Sherman (* 1954, Glen Ridge, New Jersey, USA), die sich in ihren Arbeiten immer wieder mit Fragen der Identität beschäftigt und dafür in verschiedene Rollenbilder schlüpft. Vor verschwommenen Rückwandprojektionen präsentiert sich die Künstlerin in ihrer Werkgruppe »Rear Screen Projections«, 1980/81 selbst in stereotypen Frauenbildern, die durch die amerikanischen Medien der 1970er Jahre transportiert wurden.
Wieder zurück in Richtung Ausgang finden sich rechts und links des Treppenabgangs noch einmal verschiedene Facetten einer »Dialektik der Präsenz« zusammengefasst. So verschränkt etwa die die Künstlerin Louise Lawler (* 1947, Bronxville, New York, Vereinigte Staaten) in ihrer Arbeit »Add to it (E)«, 2003 räumliche und zeitliche Präsenz miteinander. Louise Lawler gilt als Vertreterin der Appropriation Art, einer Kunstrichtung, die seit den 1970er Jahren bereits vorhandene künstlerische Objekte ganz oder teilweise in eigene Bildsysteme einbezieht. In dieser als Aneignung bezeichneten künstlerischen Haltung verwenden Künstlerinnen und Künstler Zitate von meist berühmten Kolleginnen und Kollegen und integrieren diese zum Beispiel in neue zeitliche, räumliche, soziale, persönliche oder bildliche Kontexte. Louise Lawler arbeitet also mit Zitaten – von Zitaten. Das Bild im Bild zeigt das Gemälde »Ema«, 1966 des international anerkannten deutschen Malers Gerhard Richter. Dieser wiederum bezieht sich auf den Künstler Marcel Duchamp, der 1912 das Bild »Nu descendant un escalier no. 2« schuf. Hier nimmt er seinerseits Bezug auf Eadweard Muybridge, einen Pionier fotografischer Techniken, der sich auf natürliche Bewegungsabläufe spezialisiert hatte und diese in seriellen Bildabfolgen sichtbar machte. 1887 stellte er die Studie einer nackten Frau vor, die eine Treppe hinuntergeht. Diese Kunstwerke kulminieren in der Arbeit von Louise Lawler und sind gleichermaßen absent wie präsent.
Abschließend wird in Hans-Peter Feldmanns (* 1941, Hilden, Deutsches Reich – † 2023, Düsseldorf, Deutschland) Arbeit »Zwei Mädchen mit Schatten« das Ausstellungsthema erneut besonders greifbar.
Der jüngst verstorbene Konzeptkünstler arbeitete mit verschiedensten Fundstücken und Medien. In »Zwei Mädchen mit Schatten«, 2011 hat Hans-Peter Feldmann in den Silbergelatineabzug einer Fotografie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts eingegriffen und eines der Mädchen herausgeschnitten, sodass nur noch ihr Schatten auf ihre Präsenz verweist. Das Verhältnis zwischen Anwesenheit und Abwesenheit wird so in diesem Kunstwerk, welches Hans Dieter Huber gleich zu Beginn seiner Beschäftigung mit der Ausstellung als Teasermotiv ausgewählt hat, eindrücklich zusammengefasst.
Die Ausstellung fächert ein breites Spektrum an Lesarten des Themas »Präsenz« auf und bietet unseren Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern die Möglichkeit, Präsenz im Moment der Kunstbetrachtung immer wider neu und anders zu erfahren und zu reflektieren.
Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung: Claudia Angelmaier, Jean Le Gac,Sophie Calle, Barbara & Michael Leisgen, Philip-Lorca diCorcia, Sara-Lena Maierhofer, Pietro Donzelli, Andreas Mühe, Hans-Peter Feldmann, Loredana Nemes, Philipp Goldbach, Helena Petersen, Paul Graham Michelangelo Pistoletto, John Hilliard, Barbara Probst, Candida Höfer, Gerhard Richter, Roni Horn, Helen Sear, Gottfried Jäger, Cindy Sherman, Magdalena Jetelová, Laurie Simmons, Sarah Jones, Hiroshi Sugimoto, Timo Kahlen, Wolfgang Tillmans, Louise Lawler, Anna Vogel.
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