In Kooperation mit dem Zentrum für neue Literatur und dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt wendet sich die Kunsthalle Darmstadt nach langer Zeit erneut dem vormals "anderen" Teil Deutschlands zu: 1968 hatten sich die innerdeutschen Beziehungen soweit verbessert, dass zu den 10. Darmstädter Gesprächen die Ausstellung Menschenbilder unter Beteiligung des Verbandes bildender Künstler der DDR stattfinden konnte. Ein Rezensent der FAZ beschrieb diese damals als eine "kleine documenta". 1985 zeigte die Ausstellung Durchblick beispielhafte Kunstzeugnisse der DDR aus der Sammlung Ludwig. Weiter zurück reichen Beziehungen zwischen Darmstadt und der Neuen Musik in der DDR. An den 1946 gegründeten "Ferienkursen für internationale Neue Musik" nahmen bis zum Mauerbau zahlreiche Musikerinnen und Musiker der SBZ teil, dann erst wieder ab den späten 1970er Jahren. Einige von ihnen kamen mit Kompositionen im Gepäck, die uraufgeführt wurden. 1989 ging der Leonce- und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt erstmals an einen Dichter, der in der DDR sozialisiert worden war und in Darmstadt Wurzeln schlagen sollte: Kurt Drawert. 1998 gründete er die Darmstädter Textwerkstatt und 2004 das Zentrum für neue Literatur. In der Stadt lebt auch der 1987 aus der ehemaligen DDR geflohene Bildhauer Joachim Kuhlmann, der hier 2003 gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth Kuhlmann einen Besuchern offenstehenden Skulpturengarten gründete.
2025: An den Ausstellungswänden wechseln Gemälde und typografisch Lyrikbänden nachgestaltete Texte in gleichberechtigter Ordnung. Dieser durchgehende, die lateinische Phrase Ut pictura poesis (Wie die Malerei so die Poesie) in Erinnerung rufende Fries wird an 10 Aussichtspunkten von vor die Wand gestellten Stühlen unterbrochen, an denen Kopfhörer in moderne Klangwelten hineinzuhören erlauben. Über die Gattungen, Zeiten und Orte hinweg treten beim Gang durch die sieben Räume Parallelentwicklungen, Querverbindungen und Berührungspunkte hervor.
Der Ausstellungstitel ist einem Gedicht von Kurt Drawert entlehnt, das ohne die DDR beim Namen zu nennen, auf das Bleibende ihrer Erfahrung abhebt.
Kurt Drawert
Mit Heine
Dies Land, von dem die Rede geht,
es war einst nur in Mauern groß,
dies Land, von Lüge zugeweht,
ich glaubte schon, ich wär es los.
Ich glaubte schon, es wär entschieden,
daß wer nur geht, auch gut vergißt.
Doch war nun auch ein Ort gemieden,
der tief ins Fleisch gedrungen ist.
Als fremder Brief mit sieben Siegeln
ist mir im Herzen fern das Land.
Doch hinter allen starken Riegeln
ist mir sein Name eingebrannt.
Malerei und Bildhauerei
Die Auswahl zeigt 10 Malerinnen und 10 Maler, die zwischen 1919 und 1956 geboren den Strömungen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts ange-hören, mit jeweils ein bis vier Werken. Hans Winkler, der als Maler 1957 die Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt besuchte und zeitweise dem Informel nahe stand, vertritt die wenig bekannte Abstraktion in der DDR. Innerhalb der figurativen Malerei in Dresden, Berlin, Leipzig und einer durchaus produktiven Provinz wurde ein Schwerpunkt auf die stil-len Gattungen Bildnis, Landschaft und Porträt gelegt. Politischer Protest drückt sich dagegen in zwei Bildern von Frank Rub aus. Die produktive Zeit vor dem Mauerbau stellen Frühwerke von Harald Metzkes, Gerd Richter (Gerhard Richter), Jürgen Böttcher (Strawalde), Hans Winkler und Ralf Winkler (A. R. Penck) vor Augen. (León Krempel)
Malerei: Christa Böhme, Jürgen Böttcher (Strawalde), Petra Flemming, Sonja Gerstner, Hubertus Giebe, Peter Graf, Angela Hampel, Ralf Kerbach, Erich Kissing, Harald Metzkes, Gudrun Petersdorff, Gerd Richter (Gerhard Richter), Eve Rub, Frank Rub, Ursula Rzodeczko, Christine Schlegel, Cornelia Schleime, Hans Winkler, Ralf Winkler (A. R. Penck), Doris Ziegler.
Bildhauerei: Joachim Kuhlmann, Peter Makolies.
Lyrik
40 Lyrikerinnen und Lyriker der DDR, die drei Generationen vertreten –
der Nachkriegsgeneration von Erich Arendt bis Günter Kunert, der Generation der sogenannten sächsischen Dichterschule von Adolf Endler bis Wulf Kirsten, sowie der Generation der „Hineingeborenen“ (Uwe Kolbe), die in den 1980er Jahren zu publizieren begann –, sollen hier repräsentativ für Tradition und Tendenzen der Lyrik stehen und zeigen, wie souverän und kohärent sich dieser Kanon in die internationalen Entwicklungen des Gedichts eingefügt hat und wie weitestgehend resistent er gegen Machtansprüche und ideologische Bevormundung war. In keinem anderen Genre der Literatur waren Sprache und Formbewusstsein so frei wie in der Lyrik und nirgendwo sonst wurden die Grenzen des Sagbaren so weit geöffnet. Das mag an der besonderen Konsistenz der lyrischen Sprache liegen, ebenso aber auch an der temporalen Beweglichkeit des Gedichts, auf Reize und Ereignisse schnell und assoziativ reagieren zu können. Die Auswahl der hier vorgestellten Autorinnen und Autoren mit je einem Gedicht ist in keiner Weise auf Vollständigkeit bedacht, sondern soll ein besonderes Feld der Produktion abgrenzen – das der Lyrik jenseits verordneter Wahrheitsansprüche. (Kurt Drawert)
Auswahl: Erich Arendt, Wilhelm Bartsch, Johannes R. Becher, Wolf Biermann, Johannes Bobrowski, Thomas Böhme, Thomas Brasch, Volker Braun, Bertolt Brecht, Heinz Czechowski, Kurt Drawert, Adolf Endler, Elke Erb, Franz Fühmann, Durs Grünbein, Peter Hacks, Eberhard Häfner, Kerstin Hensel, Stephan Hermlin, Wolfgang Hilbig, Peter Huchel, Bernd Igel (Jayne-Ann Igel), Rainer Kirsch, Sarah Kirsch, Wulf Kirsten, Barbara Köhler, Uwe Kolbe, Andreas Koziol, Günter Kunert, Reiner Kunze, Kito Lorenc, Georg Maurer, Karl Mickel, Heiner Müller, Inge Müller, Gert Neumann, Bert Papenfuß-Gorek, Richard Pietraß, Andreas Reimann, Thomas Rosenlöcher.
Neue Musik
Zusätzlich zu den beiden wichtigsten Polen der Ausstellung – Lyrik und Malerei – werden starke und unterschiedliche Positionen von Komponistinnen und Komponisten aus der DDR hörbar gemacht. Einige von ihnen waren auch bei den Darmstädter Ferienkursen präsent: Paul Dessau besuchte die Veranstaltung 1957, Friedrich Goldmann war 1959 mit 18 Jahren Teilnehmer im Kompositionskurs von Karlheinz Stockhausen. Hans-Karsten Raecke erregte 1980 besonderes Aufsehen, als er gleich nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik den Weg nach Darmstadt zu den Ferienkursen fand: Er kam mit einem Wartburg-Kombi voller selbstgebauter Blasinstrumente, die er in eigenen Kompositionen vorführte und dafür neben viel Applaus auch den Kranichsteiner Musikpreis erhielt.
Den Preis bekam auch sechs Jahre später Steffen Schleiermacher aus Leipzig. Der Pianist, Dirigent und Komponist hatte durch engagierte Lehrer bereits früh Neue Musik von der anderen Seite der Mauer im Repertoire. 1986 durfte er als quasi offizieller Teil des “Reisekaders” zu den Ferienkursen nach Darmstadt fahren. “Als einziger Ossi in Darmstadt bestaunte man mich natürlich wie ein Wundertier”, erinnerte er sich später an diese ebenso prägende wie auch gemischte Erfahrung. Schleiermacher kehrte 1994 und 1996 noch zweimal nach Darmstadt zurück, doch “nie wieder”, konstatierte er 2012 in einem Rundfunkbeitrag für den HR, “erlebte ich dort diese Mischung aus wunderlichem, märchen-haftem Schauer und wohligem Schauder, der in meiner Erinnerung über diesem ersten Besuch 1986 im Mekka der Avantgarde liegt”.
Bei den ersten Darmstädter Ferienkursen nach der Wende präsentierte im Sommer 1990 eine größere Delegation vor allem jüngerer Komponist:innen und Wissenschaftler:innen ihre Arbeit und informierte gleichzeitig über das bisherige Musikleben im anderen Teil Deutschlands – darunter befand sich auch die 1964 in Dessau geborene Annette Schlünz, die damit die jüngste Komponistin der vorliegenden Auswahl ist. Heute zählt die Künstlerin, die bereits als Zwölfjährige in die von Hans- Jürgen Wenzel gegründete Komponistenklasse Halle eintrat, zu den bekanntesten Vertreter:innen der Generation, die ihre Ausbildung in der DDR erhielt, deren eigentliche Karriere sich aber nach der Wende entfaltete.
Auswahl: Paul Dessau, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Hans-Karsten Raecke, Friedrich Schenker, Annette Schlünz, Ruth Zechlin, Jakob Ullmann, Steffen Schleiermacher.
Kunsthalle Darmstadt
64293 Darmstadt, Steubenplatz 1
www.kunsthalle-darmstadt.de
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