Gerhard Rühm (*1930 in Wien) ist ein Virtuose in der Erschließung intermedialer Grenzbereiche und erweiterter medialer Ausdrucksformen. Sein Werk verbindet poetische, visuelle und musikalische Elemente und eröffnet in der Überwindung „traditioneller“ Gattungen neue ästhetische Sinnfelder. Zugleich bereiten Rühms Arbeiten intellektuelles Vergnügen und animieren erweiterte Wahrnehmungen, in denen feste Sprach- und Denkroutinen auf konzeptuelle und humorvolle Weise durchbrochen werden. soon | just | now bildet mit zwei weiteren Retrospektiven von Nanni Balestrini und Hansjörg Mayer den Auftakt der ZKM-Ausstellungsreihe Poetische Expansionen, die im Sommer mit Reinhard Döhl, Helmut Heißenbüttel und Konrad Balder Schäuffelen fortgesetzt wird.
Gerhard Rühm studierte Klavier und Komposition an der Wiener Musikakademie und bei Josef Matthias Hauer, dem Erfinder der Dodekaphonie. In den 1950er-Jahren war er vor allem literarisch tätig und erlangte mit ersten Lautgedichten Bekanntheit als experimenteller Poet. Als Mitbegründer der legendären Wiener Gruppe (gemeinsam mit Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener) war Rühm maßgeblich an der innovativen Expansion literarischer Verfahren hin zu neuen Ausdrucksformen beteiligt: Die Wiener Gruppe
führte „Happenings“ auf, noch bevor dieser Begriff erfunden war. Beim 2. Literarischen Cabaret zertrümmerten Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner 1959 ein Klavier – wohlgemerkt erstmals in der Kunstgeschichte und bevor die Fluxuskünstler zu solch radikalen Mitteln griffen. Doch die Provokation war für Rühm nur ein Nebeneffekt, der weniger den Charakter seiner Arbeiten beschreibt, denn die konservative Atmosphäre im Nachkriegsösterreich. Gemeinsam mit dem Zirkel seiner Künstlerkollegen war er bemüht, an die Leistungen der
experimentellen Avantgarden von Expressionismus, Dada, Surrealismus und Futurismus anzuknüpfen. Charakteristisch für Rühms Schaffen ist der innovative Ansatz, die strenge Konzeption, aber auch der spontane Ausdruck.
Die Ausstellung soon | just | now. gerhard rühm als intermediapionier präsentiert beispielhaft das poetische, visuelle und musikalische Schaffen des Künstlers. Gezeigt werden bildnerische Arbeiten (Visuelle Poesie, gestische und konzeptionelle Zeichnungen, Visuelle Musik, Fotomontagen, Buchobjekte), Filme (Schriftfilme, Kinematografische Texte, Voice-Over-Co-Produktionen mit Hubert Sielecki) und auch Musik (auditive Poesie, Chansons, Tondichtungen). Die Werkauswahl vergegenwärtigt, dass die intermediale Ausrichtung von Anfang an ein übergreifendes und stilprägendes Prinzip im Schaffen des Künstlers bildet: Rühm dekonstruiert Sprache, Klang und Bild, um sie systematisch und nach selbst entwickelten Montageverfahren neu zusammenzufügen. Er überführt Schrift in Film, Zeichnung in Musik, Musik in Bilder und Bilder in Dichtung.
Seine Konstellationen erweisen sich nicht nur als mediale Vexierspiele von Sinn und Form. Sie kombinieren vielmehr Systeme aus Zahlen, Lauten und Buchstaben wieder miteinander, die im antiken griechischen Vokalalphabet noch alle vereint waren und die wir heute in ausdifferenzierten Codes getrennt voneinander nutzen. Wenn die Grenzen unserer Sprache wirklich die Grenzen unserer Welt sind – wie Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus (1921) schreibt – so tritt das Werk Gerhard Rühms an, alle Grenzen weit zu öffnen. Darum hat Gerhard Rühm auch eine Variante von Ludwig Wittgensteins bekanntem Satz „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ geliefert, sie lautet: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man singen.“
Rühm lehrte von 1972 bis 1995 als Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg sowie mehrmals an der Internationalen Sommerakademie für bildende Kunst in Salzburg. Er lebt in Köln und Wien. Seit 2005 erscheinen seine „Gesammelten Werke“ im Verlag Matthes & Seitz in Berlin.
Insgesamt drei Ausstellungen – Retrospektiven von Nanni Balestrini (*1935), Hansjörg Mayer (*1943) und Gerhard Rühm (*1930) – bilden den Auftakt der Ausstellungsserie Poetische Expansionen, die im Sommer mit Reinhard Döhl, Helmut Heißenbüttel und Konrad Balder Schäuffelen fortgesetzt wird.
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