Victor Man - Zephir
"Alles geschah so wie es sein muss, nachts, inoffiziell, nur dass sie anschließend bei Sonnenschein dort auf jener Sandbank einschwärzten und aufplatzten; man sah, dass sie voller Würmer waren und sie fuhren fort zu stinken, und die Düfte, die zurück in die Stadt krochen, heiß und schwer, wurden folgendermaßen benannt: 'Zephir'."
Diese Passage findet sich in einer Kurzgeschichte im Katalog zur Ausstellung. Ihr Autor, der Rumäne Alexandru Monciu-Sudinski beschreibt, wie fünf große Walfische eine mittelalterliche, gleichzeitig aber von deutschen Hakenkreuz-trägern heimgesuchte Stadt vor Angst erzittern lassen.
Das Thema, und auch die Farbpalette von Victor Man sind damit gesetzt. In den Bildern von Victor Man herrscht eine Finsternis aus Schwarz-, Grau- und Grüntönen, an die sich das Auge des Betrachters zunächst gewöhnen muss. Erst mit dieser Gewöhnung wird Orientierung möglich, werden die Bildinhalte und Konturen allmählich sichtbar. So haben die Bilder von Victor Man die Funktion einer Schwelle, eines Übergangs, den es zu durchqueren gilt. Der Raum, der sich beim Verweilen vor den Bildern öffnet, führt in eine Welt der mythischen Gestalten, sowie der Zwitterwesen auf dem Weg von Mensch zum Tier oder vom Tier zum Mensch.
Ein wiederkehrendes Motiv ist das der Enthauptung: eine sitzende Figur, deren Kopf nicht im Bild ist, hält einen Kopf auf ihren Knien. Die Figur und auch der Kopf in diesen Bildern tragen sowohl männliche als auch weibliche Züge. Das Geschehen lässt Deutungen zu, die von Judith und Holofernes bis hin zu Salome reichen. Das Figurenprogramm von Victor Man oszilliert zwischen den Polen Askese und Exzess, zwischen heiligen Einsiedlern wie Antonius Eremita auf der einen Seite, und lüsternen Sadomasochisten oder Lotophagen auf der anderen, letztere ganz dem Genuss der alles vergessen machenden honigsüßen Lotosfrucht ergeben. Die Wesen, die seine Gemälde bewohnen, sind von niedersten Trieben oder höchstem spirituellen Streben geleitet. Die Dunkelheit, in die sie gehüllt sind, ermöglicht alle Stadien des Übergangs von einem inneren Zustand zum anderen.
Victor Man wurde von der Deutschen Bank als "Künstler des Jahres" 2014 ausgezeichnet. Nach ihrem Auftakt in der Deutsche Bank KunstHalle in Berlin war die von Friedhelm Hütte kuratierte Ausstellung auch in der Zacheta Gallery in Warschau zu sehen.
Nach Wangechi Mutu (2010), Yto Barrada (2011), Roman Ondák (2012) und Imran Qureshi (2013) ist Victor Man der fünfte "Künstler des Jahres" der Deutschen Bank. Die Auszeichnung wird auf Empfehlung des Deutsche Bank Global Art Advisory Council vergeben, dem die renommierten Kuratoren Okwui Enwezor, Hou Hanru, Udo Kittelmann und Victoria Noorthoorn angehören. Im Fokus stehen Künstler, die bereits ein substanzielles Werk geschaffen haben und inhaltlich wie formal neue Wege beschreiten. Als "Künstler des Jahres" 2015 wurde der Japaner Koki Tanaka benannt.
Katalog "Victor Man, Szindbád" hrsg. von Deutsche Bank AG, mit Beiträgen von Stefan Krause, Friedhelm Hütte, Bogdan Ghiu, Alessandro Rabottini und Alexandru Monciu-Sudinski, ISBN 978-3-7757-3806-4, 39,80 €.
Kapselausstellungen
Das Haus der Kunst eröffnet Ende Oktober eine neue Ausstellungsserie, genannt 'Kapsel-Ausstellungen'. In dieser Reihe werden jüngere, in der Museumslandschaft noch wenig etablierte Künstler und Künstlerinnen präsentiert und neue Produktionen ermöglicht. Die Kapselausstellungen geben auf diese Weise Einblick in künstlerische Praktiken und Produktionsweisen. Den Auftakt zu dieser Serie bilden neue Produktionen des in Leipzig geborenen Künstlers Tilo Schulz (geb. 1972) und des französisch-algerischen Künstlers Mohamed Bourouissa (geb. 1978). Jeder der beiden präsentiert sein Werk autonom in jeweils einem großen Saal, einer sog. 'Kapsel'.
Tilo Schulz
"Interessant an der Kategorie der Übergangsräume ist die zeitliche Komponente. In der Vorstellung des 'Fegefeuers' - der Warteschlaufe von Gottes Gnaden - sind Raum und Zeit unlösbar miteinander verknüpft. Was heraus sticht, ist das Dazwischen, das Unfertige, die Veränderung. Das Fegefeuer ist der Ort zwischen der weltlichen Existenz des Menschen und der größtmöglichen Nähe zu Gott im Himmel; und es ist die Zeit, in der der Mensch von zeitlichen Sünden gereinigt wird. Dieses Motiv der Veränderung ist an viele Raumkonzepte geknüpft: Grenze, Zelle, Schleuse ..." (Tilo Schulz)
Mit direktem Bezug auf die Dimensionen des fast 200 qm großen Ausstellungssaals baut Tilo Schulz eine begehbare Holzkonstruktion mit den Grundmaßen dieses Saales. Diese Konstruktion wird um 18 Grad gedreht und in dem Saal installiert. Durch die Drehung geht ein Stück des eingefügten Raumes hinter den eigentlichen Mauern verloren und existiert somit nur in der Vorstellung des Betrachters, als verdrängter Raum.
Die Bodenplatten des "neuen" Raumes schmiegen sich kaum erhöht an die bestehende Architektur an. Die Installation erstreckt sich vor dem Besucher wie ein begehbares Bild. Beim Betreten dieses neuen Raums werden an verschiedenen Stellen malerische Eingriffe sichtbar, und ein literarischer Text wird hörbar. Mit ihm gibt Tilo Schulz dem ursprünglichen, verdrängten Raum, der durch die Drehung einen Teil von sich selbst verloren hat, eine Stimme. Der Text greift unterschiedliche Arten von Bewegung und Verdrängung als etwas elementar Menschliches auf und animiert den Besucher, die Verbindung zu geschichtlichen Ereignissen herzustellen und ein Bewusstsein für die eigene Bewegung und deren Grenzen zu gewinnen.
In seiner Doppelrolle als Künstler und Autor führt Tilo Schulz mit seiner Installation mehrere künstlerische Anliegen zusammen: Er schafft mit einfachen Materialien einen Raum, der optisch, physisch und akustisch erfahrbar ist und als Metapher für Verdrängung, Grenzen und Kontrolle fungiert. Gleichzeitig existiert dieser Raum tatsächlich, d.h. der Besucher kann ihn durchschreiten und erleben wie eine städtische Umgebung, in der sich verschiedene Blickwinkel und Begegnungen mit anderen ergeben.
Die künstlerische Auseinandersetzung mit Übergangsräumen, Grenzen, Bewegung berührt allgemein menschliche Erfahrungen. Dabei gibt es sowohl einen Bezug zur Biografie von Schulz - er ist in der DDR aufgewachsen - als auch zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.
Mohamed Bourouissa
Durch das Werk des französisch-algerischen Künstlers Mohamed Bourouissa (geb. 1978) zieht sich wie ein roter Faden die Frage nach der Konstruktion gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller Werte und deren Konflikten untereinander. Im Zentrum stehen Menschen, die sich sozial, kulturell und ökonomisch an den Rändern der Gesellschaft bewegen.
Kurz nach den Unruhen in den Pariser Banlieues 2005 fing er an, mit einer fotografischen Serie eine neue Perspektive jenseits der Medienberichterstattung zu zeigen. Für "Périphérique" (2005-09) arbeitete er eng mit Jugendlichen aus den Banlieues zusammen. Er inszeniert sie in Fotografien, deren Komposition von den Gemälden eines Caravaggio, Delacroix oder Géricault inspiriert ist. Zuletzt machte er mit seinem Projekt "All-In", für das er mit dem Rapper Booba kollaborierte und die Kunstwelt mit dessen Musik konfrontierte, von sich reden.
Im Rahmen der Kapsel-Ausstellungen präsentiert Mohamed Bourouissa sein neuestes Projekt "Horse Day" (2014). Über Monate hinweg lebte der Künstler in Philadelphia und beschäftigte sich mit dem Fletcher Street Urban Riding Club. Daraus entstanden ist ein Film, fotografische Werke und eine Reihe von Skulpturen.
Pferde gehören seit den 1960er-Jahren zum Stadtbild von Philadelphia. Anfangs transportierten sie Gemüse, Obst, Milch und Hausrat, später dienten sie der Freizeitgestaltung ihrer Besitzer. Die Reitställe bieten vielen Jugendlichen eine attraktive Beschäftigung. Bei der Fürsorge für die Tiere schulen sie auch ihr Verantwortungsbewusstein.
2006 veröffentlichte die Fotografin Martha Camarillo Bilder dieser Reitställe aus der Fletcher Street, im Norden von Philadelphia. Durch sie wurde Mohamed Bourouissa auf das Thema aufmerksam. Die Jugendlichen und ihr urbanes Umfeld verkörpern für Bourouissa ein subversives Modell des Cowboy, das den in die Jahre gekommenen Stereotyp des - stets hellhäutigen - Marlboro- oder Western-Cowboys ablöst.
Aufhänger der Handlung in Mohamed Bourouissas Film ist das "Horse Tuning": Vor dem Wettbewerb, einem Hindernisparcours, werden die Pferde "aufgemotzt" und bei einem Schaulaufen der Jury und dem Publikum vorgeführt. Die Kostüme entstanden in Zusammenarbeit mit zeitgenössischen bildenden Künstlern aus Philadelphia: eine Pferdedecke aus aneinandergereihten CD-Rohlingen, die das Sonnenlicht reflektiert, oder eine leuchtende Neonröhre an der Stirn des Tieres, die dieses Pferd zu einem Fabelwesen werden lässt, ähnlich dem mythischen Einhorn.
Das Umfeld der sozial überwiegend benachteiligten Jugendlichen verwandelt sich durch das "Tuning" der Pferde in ein fantastisches Szenario, in dem Pferd und Reiter zu wundersamen und fast apokalyptischen Figuren verschmelzen. Durch die Einführung des Fantastischen öffnet sich ein Raum, der eine Neudefinition der eigenen Identität zulässt. Gleichzeitig schlägt das Tuning eine Brücke zwischen Pferd und Auto. Gemeinsam ist beiden der amerikanische Mythos von Freiheit und Selbstdarstellung.
Mit freundlicher Unterstützung von Bureau des arts plastiques / Institut français und dem Französischen Ministerium für Kultur und Kommunikation
Kapsel 01: Tilo Schulz
Donnerstag, 11. Dezember 2014, 19 Uhr
Performance Lecture
Kapsel 02: Mohamed Bourouissa
Donnerstag, 13. November 2014, 19 Uhr
Diskursives Filmscreening mit Mohamed Bourouissa
In Englischer Sprache
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