Die Installationen der in Berlin lebenden Künstlerin Sung Tieu (*1987 in Hai Duong, Vietnam) kreisen um die Themen Migration und Identität, Bürokratie und ihre Kontrollmechanismen. Ihre für die Ausstellung One Thousand Times zusammengestellten Werke thematisieren ein in der deutschen Nachkriegsgeschichte bislang vernachlässigtes Kapitel: 1980 schlossen die DDR und die Sozialistische Republik Vietnam ein Abkommen zur Anwerbung vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter, die in der Folge in den Volkseigenen Betrieben der DDR eingesetzt wurden. Durch die Wiedervereinigung 1990 sahen sich diese mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert.
Aufgrund ihrer Familiengeschichte begann Sung Tieu, sich mit den soziopolitischen Auswirkungen dieses Abkommens zu beschäftigen. Ihre Ausstellung in der Kunsthalle Nürnberg rückt den Fokus auf die Plattenbausiedlung Gehrenseestraße 1 in Berlin, in der die Künstlerin einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Dieser Gebäudekomplex gehörte mit rund 1.000 Wohnungen zu den größten Wohnheimen für vietnamesische Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter. Aktuell wird der Gebäudekomplex, der seit 2003 leer steht, abgerissen, um auf dem 6,3 Hektar großen Grundstück ein neues Hochhausquartier zu errichten. Sung Tieu verschränkt autobiografische Erfahrungen mit den gesellschaftspolitischen und ökonomischen Entwicklungen, die sich in der Geschichte der Wohnsiedlung und der dort lebenden Menschen spiegeln. In ihren Werken überlagern sich Aspekte der Arbeit, der Regulierung von Wohnraum sowie der Kontrolle von Privatsphäre.
Die künstlerische Strategie von Sung Tieu beruht auf systematischer Archivarbeit. Zusammengetragene und methodisch erschlossene Archivalien werden mit Objekten, architektonischen Interventionen, Dokumenten, Zeichnungen, Videos und Sounds verwoben. So entstehen sorgsam inszenierte, atmosphärisch verdichtete Rauminstallationen mit prägnanter Bildsprache und vielfältigen Bezügen.
Systematiken, Ordnungs- und Klassifikationssysteme sind für Sung Tieus Formfindung ebenso zentral wie die Verwendung von Materialien wie Stahl oder Glas, die eine Distanz schaffende Atmosphäre befördern. Auch integriert die Künstlerin immer wieder Alltagsgegenstände ohne persönliche Handschrift als Readymades in ihr Werk. Formal sind ihre Werke damit an der Ästhetik der Minimal Art angelehnt. Dies scheint anfänglich im Widerspruch zu ihrem narrativen Ansatz und ihrer persönlichen Involviertheit zu stehen, definierte sich die in den 1970er-Jahren in den USA entstandene Kunstrichtung doch über eine kategorische Abkehr von jeder psychologischen Inhaltlichkeit, gesellschaftlichen Kontextualisierung oder politischen Aussage. Sung Tieu nutzt die Formensprache des Minimalismus und füllt sie mit sozialer Realität, um eine individuelle und zugleich soziologische, historische wie politische Geschichte zu erzählen.
Die Ausstellung One Thousand Times entstand in enger Kooperation mit dem Kunst Museum Winterthur. Im Snoeck Verlag ist die ausstellungsbegleitende Publikation erschienen, welche das umfassende Recherchematerial der Künstlerin in den Mittelpunkt stellt (232 Seiten, Deutsch/Englisch, ISBN 978-3-86442-426-7, 48 €).
Kunsthalle Nürnberg im KunstKulturQuartier
Lorenzer Straße 32 // 90402 Nürnberg/Nuremberg,
www.kunsthalle.nuernberg.de
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