Ende der 1950er Jahre wurde im öffentlichen Raum die Sprache als Kommunikationsmittel zunehmend durch die Verbreitung visueller Phänomene in Frage gestellt. Vor allem in den USA begann Werbung die Erscheinungsweise der Massenmedien mehr und mehr zu bestimmen. Attraktive Bilder und einprägsame Zeichen waren da effektiver als Texte. Reißerische Sensationsnachrichten, auftrumpfende Reklame zur Steigerung des Konsums und die allgegenwärtige Präsenz von Stars aus Film und Fernsehen verfehlten nicht ihre Wirkung und faszinierten zunehmend auch die Künstler. Der Abstrakte Expressionismus, der in der Nachfolge Jackson Pollocks die Malerei jahrelang dominiert hatte, wurde von der Pop Art abgelöst, die die Sujets der amerikanischen Alltagskultur unmittelbar aufgriff.
Auch Ed Ruscha, 1937 geboren, und deutlich jünger als Andy Warhol, Robert Rauschenberg oder Jasper Johns, bezieht seine ästhetischen Inspirationen aus Massenmedien und Filmen sowie aus den urbanistischen Besonderheiten von Los Angeles. In stilisierter Form malt er Firmensignets, Tankstellen und Kaufhäuser. Hinzu kommen Gebrauchsgegenstände, Landschaften, Logos, Slogans oder einzelne Worte. Mit solchen Sprachbildern geht Ruscha der Frage nach, inwieweit sich spezifische Assoziationen durch Typografie, Gesamtform und Farbe evozieren lassen.
Die Verschränkung von Texten und Bildern verrät Ruschas Nähe zur Concept Art. Neben die Gemälde mit industriellen Bauten oder Wörtern treten seine Bücher. Der Künstler selbst produziert, verlegt und vertreibt die schmalen Bände, die außer Titeln und Ortsangaben meist nur eine Folge von Schwarz-Weiß-Fotos enthalten. 1962 erscheint Twentysix Gasoline Stations. Es folgen Various Small Fires (1964), Some Los Angeles Apartments (1965), Every Building on the Sunset Strip (1966) und Thirtyfour Parking Lots (1967). Die Reihe setzt sich mit On the Road (2009) bis in die Gegenwart fort.
Sind die Gemälde aufgrund ihrer Singularität der Sphäre von privaten und öffentlichen Sammlungen zuzurechnen, so versteht Ruscha seine Bücher nicht als luxuriös ausgestattete Edition von begrenzter Anzahl, sondern als hochrangiges Massenprodukt. Beide Aspekte bestimmen auch die neue Sammlungspräsentation im Museum Brandhorst.
Dabei stehen drei Erwerbungen im Zentrum. Old Book Back Then präsentiert einen Folianten mit makellos gebleichten Seiten ohne Worte. Old Book Today zeigt dasselbe Buch in heutigem Zustand mit Wasserschäden und Stockflecken. Bei Old Book With Wormholes gibt es zusätzlich Falten und Fraßspuren. Durch das Fehlen der Schrift haben die gebundenen Seiten ihre Funktion und ihren Sinn verloren. Sind es Epitaphien des Nichtmehr oder des Nochnicht? Deutet die Leere auf Verlust, auf Vergessen, Einbuße und kulturellen Niedergang?
Ergänzt werden die großen Memento mori-Bilder durch acht kleinere Gemälde und fünf Fotos, die der Künstler der Udo und Anette Brandhorst Stiftung geschenkt hat. Hier gibt es einzelne Buchstaben, Worte und Titel zu lesen, aber die Publikationen, ganz gleich ob als Bild oder Objekt, lassen sich nicht öffnen, so dass man nicht weiß, ob sie enthalten, was die Titel suggerieren. Es sind im wesentlichen Fundstücke, wobei das Spektrum von hoher Literatur (Shakespeare) bis zu obsoleten Business-Ratgebern reicht. Zusammen mit Ruschas eigenen Publikationen (auch sie Schenkungen) bilden die Darstellungen einen geschlossenen thematischen Komplex, der einen Zeitraum von 50 Jahren umfasst und die große Anzahl der Künstler-Bücher der Sammlung Brandhorst auf eindrucksvolle Weise erweitert.
In diesem Zusammenhang ist an die im Museum Brandhorst gezeigte Ausstellung „Picasso Künstlerbücher“ zu erinnern (2010/2011). Zu verweisen ist darüber hinaus auf die ab Mitte September 2013 laufende Schau „Reading Andy Warhol“, die den von Warhol illustrierten Büchern gewidmet ist.
Welches Spektrum die neueren Werke Ruschas umfassen, wird evident, wenn man die Gemälde der alten Bücher mit der Edition On the Road von 2009 vergleicht. 1957 erstmals erschienen, hatte das Buch seinen Autor Jack Kerouac zum wichtigsten Vertreter der Beat-Generation der 50er Jahre gemacht. Ruschas neue Gestaltung dieses epochalen Romans basiert auf einem strengen Layout und einer lockeren Auswahl von Bildern, die alle auf Technik, Mobilität und Verkehr verweisen und so eine Verbindung zur Erzählung herstellen. Der Unterschied zwischen den leeren und zerfallenden Folianten und der hochartifiziellen Edition eines wichtigen Romans könnte kaum größer sein.
Ruschas zentrales Thema ist das Verhältnis von Wort und Bild. In der Gegenüberstellung der Gemälde, Buchobjekte, Fotos und Editionen manifestiert sich die intellektuelle und künstlerische Situation unserer Zeit in einem kleinen, allerdings bezeichnenden Ausschnitt. Indem Ruschas Werke die Grenze zwischen Realität und Fiktion durchlässig erscheinen lassen, erweisen sie sich insgesamt als ein wunderbar verwirrendes Tonikum für unsere Wahrnehmungsgewohnheiten, die durch die schamlose und teils sinnwidrige Verwendung von Worten und Bildern in unserer medialen Massenkultur abgestumpft sind.
Öffnungszeiten: Täglich außer MO 10.00 - 18.00, DO 10.00 - 20.00
Museum Brandhorst
Theresienstraße 35a
80333 München
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