Ausstellungsbesprechung: “On Line - Drawing through the 20th Century”, Museum for Modern Art, New York (noch bis zum 7. Februar 2011).
Man nehme einen Bleistift, ein Papier. Ein Punkt, der zur Linie wird und über das Blatt wandert, sich verliert. Die Linie - der Superstar der Kunst - mäandert derzeit durch die Räumlichkeiten des MOMA. Doch was ist eine Linie? Wer davon ausging die Linie sei die visuelle Verbindung zweier Punkte, gebannt auf die Zweidimensionalität eines Blatt Papiers, wird seine Definition schnell ausweiten müssen. Mit “On Line - Drawing through the 20th Century” verknotet das Museum for Modern Art, New York die Linien des letzten Jahrhunderts zu einem spektakulären Netz.
Spätestens seit Mark Lombardis komplexen Strukturbildern wissen wir, dass ein Bleistiftstrich auf Papier nicht nur ästhetische Formen, sondern weitaus brisantere politische Verbindungen ans Tageslicht befördern kann. Mit simplen Linien, Pfeilen und Kreisen illustriert Lombardi verborgene Beziehungen zwischen Finanzinstitutionen, bedeutenden Politikern wie Ronald Reagan, George Bush oder Margaret Thatcher und der Bewaffnung des Irak (1998). Linien, die nach dem 11. September sogar FBI-Agenten ins Museum lockten.
Was haben nun Mark Lombardis faktische Enthüllungen mit dem in Seidenwolken verhüllten Körper Loie Fullers gemeinsam? Gleich zu Beginn der Ausstellung zeigt eine Videoprojektion Fullers “Serpentine Dance”, ein pulsierendes Tanzspektakel aus Stoff, Bewegung und Licht, das Ende des 19. Jhs. das Medium Tanz und dessen Beziehung zum Körper revolutionierte. Auch sie macht Linien sichtbar. Dieses Mal keine politischen Beziehungsgeflechte, sondern flatternde Zeitspuren. Geschwungene Arabesken, in die Luft gezeichnet. Dabei haben die Ausstellungsmacher eine kreative Lösung gefunden, die körperliche Schwerelosigkeit des Tanzes durch die Präsentation zu unterstreichen. Zwischen den Räumen schwebend und von beiden Seiten projiziert, erscheint die Videoleinwand befreit von der Gravität der Ausstellungswände und schafft so eine weitere Verbindungslinie innerhalb des Ausstellungsparcours.
Der Tanz als Linie und die Linie als Tanz spielen insgesamt eine überraschend exponierte Rolle in den Ausstellungsräumen. Von Kandinskys Tanzkurven, die er zu den Tänzen der Palucca entworfen hat (1926), über Carolee Schneemann´s performativen Malprozess, bei dem sie mit ihrem nackten gefesselten Körper an ihre physischen Grenzen gelangt ("Up to and Including Her Limits", 1973-76), bis hin zu Trisha Browns Körperabdruck-Notationen (2007): Bewegung und Linie scheinen sich immer wieder ineinander übersetzen zu wollen. Die Idee der Linie als ein “Punkt in Bewegung”, wie sie etwa von Klee und Kandinsky beschrieben wurde, wird im Tanz verkörpert.
Während die Linie vom Tanz wie eine Saite angeschlagen und in Vibration versetzt wird, emanzipiert sie sich in der Skulptur von ihrer Zweidimensionalität. In Eva Hesses “Hang up” drängt ein massives Stahlrohr in den Raum und verlässt das rechteckig definierte Bildfeld. Die Zeichnung fällt, im wahrsten Sinne des Wortes, aus dem Rahmen - und uns vor die Füße. Dieses monumentale Statement steht in einem visuellen Dialog mit Fred Sandbanks fragiler Drahtkonstruktion. Hier treten die Linien wie hauchdünne, durchscheinende Bleistiftstriche in den Raum, die mehr flüstern als fordern. Dass die Linie längst den Raum erobert hat, wird auch in El Lissitzkys konstruktivistischem “Prounenraum” (1923) physisch erfahrbar, der als begehbare Parzelle in der Ausstellung rekonstruiert wurde. Die Wände sind besiedelt von geometrischen Formen, die sich in die dritte Dimension erweitern und gegeneinander verschieben. Lineare Vektoren ragen in den Raum, umschließen Ecken und führen schließlich zu einer Rekonzeption und Öffnung des Raumes.
Dass Linien jedoch auch Grenzen der Freiheit darstellen können, zeigt Mona Hatoums dreidimensionale Gitterstruktur aus Stacheldraht (“Cube 9x9x9”, 2008). Die saubere, wissenschaftliche Ordnung der Linien, wie sie etwa auf Agnes Martins Papierarbeiten erscheint, wirkt hier bedrohlich und einengend. Gegenübergestellt mit Cornelia Parkers “Bullett Drawings” (2009), in denen “Zeichnungen” durch Schüsse auf Gitterzäune entstehen, verweisen diese Arbeiten auf die Realitäten von Gefängnis, Krieg und Gewalt. Die Linie zeigt sich hier nicht nur bewegt, verräumlicht und verkörperlicht, sondern auch von ihrer formalen Unschuld befreit. Und es ist genau diese Politisierung der Linie (womit wir wieder bei Lombardis Notationen angelangt sind), was diese Ausstellung auszeichnet und so inspirierend macht.
Doch was ist schließlich mit den unsichtbaren Linien? Linien, die nicht gezeichnet werden und nur im Kopf existieren? Wie bereits Leonardo da Vinci betonte, hat die Linie selbst “weder Material noch Substanz” und sollte vielmehr als “imaginäre Idee” beschrieben werden. Mit dem Titel (On Line/ Online) spielt die Ausstellung ganz bewusst auf unser Internetzeitalter an. Denn was ist das Web anderes als ein Netz aus Trilliarden von imaginären Linien, die unsichtbar die Welt verbinden? Und wenn man auch das Konzept einer Ausstellung als ein implizites Netz aus Verbindungslinien und Gegenüberstellungen betrachtet, haben die Kuratoren des MOMA ein besonders ideenreiches zusammengeknüpft.
Öffnungszeiten:
Mi-So 10.30-17.30 Uhr
Fr 10.30-20 Uhr
The Museum of Modern Art
11 West 53 Street
New York, NY 10019
moma.org
Verena Straub
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