Erró. Porträt und Landschaft
Erró, Loren, 1968, Öl auf Leinwand, 27x46 cm, Privatsammlung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
Anlässlich des Ehrengastauftritts Islands bei der Frankfurter Buchmesse widmet die Schirn Kunsthalle dem isländischen Künstler Erró vom 6. Oktober 2011 bis 8. Januar 2012 eine Einzelausstellung. Erró zählt zu den großen Einzelgängern der Kunst des 20. Jahrhunderts. Gleichermaßen pop und barock, plakativ und erzählerisch, gesellschaftskritisch und humorvoll, moralisch und abgründig, schuf er innerhalb der letzten 50 Jahre ein opulentes, unverwechselbares Werk, das sich jeder Kategorisierung widersetzt. In seinen kritisch-narrativen Collagen kombiniert er malerisch reproduzierte Bildvorlagen aus unterschiedlichen populären Quellen zu vielsagenden Tableaus. Die großen gesellschaftlichen Themen wie Politik, Krieg, Wissenschaft, Kunst und Sexualität reflektierend, erscheinen diese dichten Arrangements als Versuch, einen umfassenden Bilderatlas der modernen Welt zu erstellen. Die Ausstellung in der Schirn zeigt Errós Landschaftsserie „Scapes“ sowie erstmals den gesamten 1967/68 entstandenen Porträtzyklus „The Monsters“. Als Bindeglied zwischen den beiden Werkgruppen werden ausgewählte Erró-Filme aus den 1960er-Jahren zu sehen sein.
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Erró, 1932 als Gudmundur Gudmundsson in Ólafsvik geboren und auf einer entlegenen Farm im Südwesten Islands aufgewachsen, gilt heute als einer der bedeutendsten Künstler des Landes. Bevor er sich der Gegenwartskunst zuwandte, hatte Erró in Reykjavik und Oslo zunächst an traditionellen Kunstakademien studiert und in Italien die Technik der Freskomalerei und der Mosaikkunst erlernt. Den Anschluss an die internationale Avantgarde fand er 1958, als er sich in Paris niederließ. Anfänglich stark von dem in der französischen Hauptstadt neu auflebenden Surrealismus geprägt, gelangte Erró um die Mitte der 1960er-Jahre, im Umfeld der sich in Europa und in den USA entfaltenden „neuen Realismen“ und Pop-Art-Ansätze, zu einer höchst eigenständigen Form der kritisch-ironischen Collagemalerei, die auf der malerischen Reproduktion massenmedial verbreiteter Bildvorlagen beruht.
So entstanden bis heute meist in Form thematisch geschlossener Serien Tausende von Gemälden, in denen Erró Fragmente der unterschiedlichsten visuellen Sphären – Comics, Karikaturen, Postkarten, Fotos, Filme, Kunstreproduktionen, illustrierte Lexika, Kataloge und Magazine aller Art – hemmungslos ineinandersetzt und zu dichten, oft verstörenden visuellen Assemblagen montiert. Der Vielfalt an Themen, Stilen und Genres, die der Künstler sich auf diese Weise zu eigen macht, scheinen keine Grenzen gesetzt. Das Spektrum der immer wieder auf zeitgeschichtliche Ereignisse rekurrierenden Arbeiten reicht von der ironischen Deutung barocker Apotheosen („Baroquisme“, 1965–1968) über die im Stil des Sozialistischen Realismus gehaltenen Darstellungen der Reisen Mao Zedongs durch die westliche Welt („Chinese Paintings“, 1974) bis hin zu den als monumentale Triptychen arrangierten politischen Satiren auf der Grundlage von Comics und Karikaturen. Aufbauend auf dem sich ständig wiederholenden Bildreich, das die Konsumgesellschaft errichtet hat, hat Erró so eine Art kritische Bildgeschichte der modernen Welt geschaffen. Trotz aller inhaltlichen Provokationen und Tabubrüche bleibt er bestimmten Konventionen der traditionellen Malerei jedoch erstaunlich treu und hat in diesem Sinn nicht nur seine eigene zeitgenössische Form der Historienmalerei geschaffen, sondern auch Genres wie das Porträt und die Landschaft auf eigenwillige Weise neu belebt. Sie werden in der Ausstellung anhand einer Auswahl aus der ausufernden Bildfolge der „Scapes“ – einer eigenwilligen Fortschreibung der klassischen Landschaftsmalerei – und der seit einer Galerieausstellung im Jahr 1969 über 40 Jahre lang nicht gezeigten Serie grotesker Doppelporträts „The Monsters“ präsentiert.
Mit dem „Scape“ begründete Erró Mitte der 1960er-Jahre einen Bildtypus, den er bis in die 1990er-Jahre hinein immer wieder aufgegriffen und zu einer Serie entwickelt hat, die als Summe seines malerischen Schaffens bezeichnet werden kann. In diesen überwältigenden großformatigen „Landschaften“, die aus der Auseinandersetzung mit einer sich explosionsartig ausbreitenden Konsum- und Medienkultur hervorgegangen sind, kulminieren charakteristische Merkmale von Errós Kunst wie sein obsessiver Umgang mit dem reproduzierten Bild und das Prinzip der Akkumulation. Programmatisch ist das Gemälde „Foodscape“, das 1964 unmittelbar nach Errós erstem New-York-Aufenthalt entstand. Auf einer zum Bersten gefüllten Bildfläche von 2 mal 3 Metern entfaltet der Künstler eine uferlose „Landschaft“ von Lebensmitteln. Käse, Kuchen, Fleisch, Gemüse, Obst, Saucen und Pasten vereinigen sich zu einem schwindelerregenden Panorama der westlichen Wohlstandsgesellschaft. Das Prinzip der Akkumulation unzähliger Variationen ein- und desselben Motivs setzt sich in dem der menschlichen Anatomie gewidmeten „Inscape“ (1968), dem apokalyptisch anmutenden „Planescape“ (1970) und dem farbenfrohen „Birdscape“ (1979) fort. In seinen zwischen realistischen Bildfragmenten und abstraktem Gesamtbild oszillierenden, gleichermaßen kritischen wie humorvollen Landschaften reflektierte Erró weiterhin Themen wie Sexualität („Lovescape“, 1969), Krieg („Fishscape“, 1974), Kunst („Odelscape“, 1982), Politik („Reaganscape“, 1986) und Wissenschaft („Science Fiction Scape“, 1992).
Erró erkannte bereits früh, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts primär von Bildern geschrieben wird, und hinterfragt die Mechanismen der modernen Massenmedien im klassischen Medium der Malerei. Gerade in den „Scapes“ manifestiert sich Errós persönliche Vision einer kritischen Enzyklopädie sämtlicher massenmedial verbreiteter Bilder. Während der Künstler oft mehrere Jahre mit der Zusammenstellung des erforderlichen Bildpools beschäftigt war, ist die in seinen Gemälden evozierte Bilderflut inzwischen Realität geworden. Ihre visionäre Kraft wird erst heute, in Zeiten des unaufhörlichen globalen Transfers von Bildern durch das Internet vollständig erfassbar. Seit ihrer erstmaligen Präsentation in Paris und Venedig Mitte der 1980er-Jahre sind die „Scapes“ in der Schirn nun erstmals wieder im Zusammenhang zu sehen.
Als ironische Stellungnahme zum klassischen Genre des Porträts ist die 1967/68 entstandene 30-teilige Gemäldeserie „The Monsters“ zu lesen. In dieser grotesken Galerie prominenter Persönlichkeiten stellt Erró dem offiziellen Konterfei jeweils ein zweites, monströs verzerrtes Gesicht gegenüber. Die zum Großteil aus Horrorfilm-Zeitschriften entnommenen Monsterfratzen erscheinen wie ein sonst verborgenes Gesicht der jeweiligen Berühmtheit. Sie offenbaren ein dunkles Geheimnis hinter der schillernden Fassade, karikieren ein vermeintliches Image und verändern so den Blick auf die prominente Figur. Doch da die Auswahl der Personen aus Geschichte und Gegenwart keinem durchschaubaren Konzept folgt und so unterschiedliche Köpfe wie Ludwig van Beethoven, Charlie Chaplin, Winston Churchill, Dante, Paul Klee, Sophia Loren, Marshall McLuhan, Mao, Sokrates, Josef Stalin und Albert Schweitzer umfasst, sind die Bilder kaum als direkte Kritik zu verstehen. Vielmehr stellt sich Errós augenzwinkernde Ermahnung, dem offiziellen Bild einer Person nicht allzu sehr zu trauen, vor allem als Reaktion auf deren mediale Repräsentation dar. Der Künstler bringt vermeintliche Gewissheiten wie die Unterscheidung zwischen Gut und Böse oder Wahr und Falsch zum Kippen und fordert den Betrachter auf, sich aus wider-sprüchlichen visuellen Informationen ein Bild zu machen. Dies verleiht den „Monsters“ auch im Hinblick auf die Realität unserer heutigen Mediengesellschaft eine ungebrochene Aktualität.
Als verbindendes Element zwischen den Werkgruppen der Landschaften und der Porträts sind einige bis heute wenig bekannte Filmarbeiten Errós aus den 1960er-Jahren zu sehen. Der Grimasse als abgründiger Kehrseite des menschlichen Antlitzes ist der Film „Grimaces“ (1962–1967) gewidmet. Erró hat Filmporträts von 167 Grimassen schneidenden Künstlerkollegen – darunter Marcel Duchamp, Claes Oldenburg, Carolee Schneemann und Andy Warhol – aufgezeichnet und zu einer grotesken, von einem Lautgedicht des lettristischen Künstlers François Dufrêne untermalten Anthologie der internationalen Kunstszene der 1960er-Jahre zusammengefügt. Der Film „Stars“ (1966/67) basiert ausschließlich auf reproduzierten Bildvorlagen: In einer monotonen Abfolge lässt der Künstler eine endlos wirkende Reihe von Porträts weiblicher Hollywoodstars vorüberdefilieren, deren ikonenhafter Glamour in der erschöpfenden Wiederholung ad absurdum geführt wird. In „Faces (Two Frames Story)“ (1964–1967) schließlich kulminiert das für Erró charakteristische Verfahren der erschöpfenden Akkumulation. Tausende Bildvorlagen von Gesichtern aus unterschiedlichsten Quellen – Sportler, Indianer, Politiker, Filmstars, Monster, Models, Babys – werden derart schnell hintereinander abgespielt, dass das einzelne Bild nahezu unkenntlich wird und sich im scheinbar endlosen Fluss der Bilder auflöst. ...
Öffnungszeiten: Di, Fr–So 10–19 Uhr, Mi und Do 10–22 Uhr
SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT
Römerberg
60311 Frankfurt
TEL +49-69.29 98 82-148
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