In den späten 1960er Jahren begannen Peter und Irene Ludwig, sich mit zeitgenössischer Kunst auseinanderzusetzen: mit Fluxus und Nouveau Réalisme sowie mit europäischer und insbe-sondere auch mit amerikanischer Pop Art. Bereits die bedeutende Ausstellung „Kunst der sechziger Jahre“ (Köln, Wallraf-Richartz-Museum, 1969) präsentierte neben Stars der Pop Art wie Andy Warhol, Robert Rauschenberg, Roy Lichtenstein und Jasper Johns zugleich Werke von Howard Kanovitz. Angeregt von dem Kunsthändler Rudolph Zwirner und dem späteren Museumsleiter Klaus Honnef wurden Peter und Irene Ludwig so zu Wegbereitern für die Pop Art in Deutschland. Von Kanovitz erwerben die Ludwigs sofort zu Beginn ihrer neuen Sammel-leidenschaft mehrere Arbeiten: The Lovers (1965), The Opening (1967), The Painting Wall. The Water Bucket Stool (1968, erworben 1969, seit 1981 im Mumok, Wien) und Journal (1972/73).
Howard Kanovitz (1929 – 2009) wurde im Anschluss an sein Studium an der Rhode Island School of Design Assistent des berühmten abstrakten Expressionisten Franz Kline (1910 – 1962). Mitte der 1950er Jahre reiste er nach Italien, Spanien und Marokko und hatte seine erste Einzelausstel-lung in der Stable Gallery in New York im Jahr 1962. Nach dem Tod seines Vaters 1963 studierte er alte Familienfotos, durch die sich sein Interesse an der figürlichen Darstellung und an der komplexen Beziehung zwischen Subjektivität, Bedeutung und Erinnerung verstärkte – und sich Kanovitz schließlich vom abstrakten Expressionismus abwandte. Seine Ausstellung im Jewish Museum 1966 gilt als Geburtsdatum der auf Fotos basierenden, fotorealistischen Malerei.
1972 lud der schon zuvor berühmte Kurator Harald Szeemann (1933 – 2005) Kanovitz gemeinsam mit den Amerikanern Chuck Close (geb. 1940) und Richard Estes (geb. 1932) sowie dem Briten Malcolm Morley (geb. 1931), dem Schweizer Franz Gertsch (geb. 1930) und den Deutschen Gerhard Richter (geb. 1932) und Sigmar Polke (1941 – 2010) als Vertreter der auf Fotografie gründenden Malerei zur documenta 5 nach Kassel ein. In der Folge nahm Kanovitz an der documenta 6 (1977) teil. Einzelausstellungen widmeten ihm die Museen Hedendaagse Kunst (Utrecht, 1973/74), das Lehmbruck Museum (Duisburg, 1974) und anlässlich des DAAD-Stipendiums 1979 die Akademie der Künste (Berlin, 1979), die Kestnergesellschaft (Hannover, 1980), der Kunstverein Freiburg (Freiburg i. B., 1980) sowie das Forum Kunst Rottweil (Rottweil, 1980). In den folgenden Jahrzehnten wurde er regelmäßig in Galerie- und Gruppenausstellungen präsentiert, wie z. B. bei der Einzelausstellung im Gana Art Center (Seoul, Korea, 1990).
Obwohl er bereits früh auf dem Kunstparkett in Deutschland vertreten war und Peter und Irene Ludwig gleich zu Beginn seiner Karriere Werke ankauften, gelang ihm nicht der entscheidende internationale Durchbruch, der mit dem der anderen großen Künstler vergleichbar wäre. Kanovitz lehrte stattdessen am Pratt Institute in New York, an der von Oskar Kokoschka als „Schule des Sehens“ gegründeten Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg und an der School of Visual Arts in New York. Seinerseits wurde Kanovitz für viele Künstlerkollegen eine Quelle der Inspiration und ein Vordenker im Bereich der medialen Kunst. So eröffnet der Bezug auf Howard Kanovitz auch dem Blick auf die Werke von Christo und von Chuck Close neue Dimensionen.
Die Ausstellung VISIBLE DIFFERENCE im Ludwig Museum, Koblenz, ist die erste museale Einzelaus-stellung seit 1980. Sie bietet die Chance, diesen Altmeister der Pop Art und der fotorealistischen Malerei wiederzuentdecken, seine künstlerische Entwicklung anhand exemplarischer, bedeu-tender Werke aus seinem Oeuvre nachzuzeichnen und seine kunsthistorische Bedeutung in der Retrospektive wissenschaftlich neu auszuloten.
Der Ausstellungstitel bezieht sich auf die Lithografie Visible Difference (1980), die in besonderer Weise den Arbeitsprozess von Howard Kanovitz illustriert. Im Vorder-, Mittel- und Hintergrund collagiert Kanovitz drei verschiedene Ebenen, die für verschiedene Wirklichkeitsbereiche stehen. Im Vordergrund ist ein Frauenkopf in drei variierenden, halb transparenten Ansichten zu sehen – vom verlorenen Profil über ein Dreiviertelprofil zur Frontalansicht. Der Mittelgrund bietet eine Akkumulation von perspektivisch wieder-gegebenen Objekten, vier Büchern und einer Bierdose, die an Trompe-l’oeil-Malerei erinnern, während die grau schraffierte Tischplatte wie nach oben gekippt und fast in Aufsicht gezeigt wird. Eine flächige, ornamentale Ebene in den Grundfarben Rot, Gelb und Blau bildet den Hintergrund und erinnert zugleich an die farbigen, gemusterten Textilien, die ein Schlüsselelement in der Bildwelt Henri Matisse‘ bildeten und zu seinen berühmten, späten Cut-Outs führten.
Interessant ist vor allem, dass Kanovitz früh fotografisches Material nutzte, selber Fotografien anfertigte und sie weiterverwendete für seine Arbeiten, die in einem komplexen Werk-prozess aus Collagen, Zeichnungen, Zerschneidungen, Überblendungen und Malerei entstehen, wobei er verschiedene Ebenen, Räume und Perspektiven kombiniert. Er selbst formuliert einmal:
Ich mache Gemälde und Plastiken, die aus meinem Interesse an der äußeren Erscheinung und der Illusion sowie am Wesen der Dinge hervorgehen. Meine Arbeitsweise basiert auf Präzision: Ich kristallisiere meine Bilder heraus, so dass sie einen bloßen Realismus übersteigen und sich dem Trompe-l’oeil annähern. Als Ausgangspunkt meiner Gemälde verwende ich meine eigenen Fotografien.
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Die in diesem Prozess entstehenden Werke bilden die Wirklichkeit ab, die weniger der tatsächlichen Wirklichkeit entspricht, als vielmehr Kanovitz‘ Vorstellung von ihr. Zu seinen charakteristischen Motiven zählt – in seinen eigenen Worten – die Darstellung architektonischer Elemente wie Fenster, Türen und Wände, oftmals mit den ausgeschnittenen Silhouetten lebensgroßer Figuren. Zusammen haben diese gestalteten Environments Teil am wirklichen Raum.2 Beispielhaft dafür ist die umfangreiche Installation Death in Treme (1971, Privatsammlung, Courtesy Hauser & Wirth). Zu einem besonderen, auch zeit- und kulturgeschichtlich bedeutsamen Dokument werden in diesem Kontext vor allem seine Beobachtungen und Werke, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kunstwelt und dem sich rasch entfaltenden Kunstmarkt stehen, vor allem mit der Rezeption von Kunst und deren Betrachtern, die zwischen Glamour, Attitüde und wirklichem Interesse angesiedelt sind. In Werken wie The People (1968, Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg) und Wie es war (1997, Sammlung Waechter, Berlin) gerät dies zu einem geradezu verwirrenden Spiel mit der Wirklichkeit und der Repräsentanz von Wirklichem.
Diese Aspekte will die Ausstellung VISIBLE DIFFERENCE vertiefen. Sie ist zugleich eine Reverenz an Howard Kanovitz‘ Wirk- und Schaffensphasen in Deutschland. Die Ausstellung versammelt zahlreiche bedeutende Werke und Dokumente aus mehr als vier Jahrzehnten aus dem mumok Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien, dem Lehmbruck Museum, Duisburg, Museum
Folkwang, Essen, aus wichtigen Privatsammlungen sowie der Howard Kanovitz Foundation, New York. Darüber hinaus werden Arbeiten aus dem Nachlass von Howard Kanovitz zum Teil erstmals in Deutschland ausgestellt. Dabei wird im Wesentlichen der Aspekt der Genese beispielhafter Werke dokumentiert und zwar von der selbst geschaffenen Fotografie, den ersten Skizzen, den Linienzeichnungen für die durch Projektion geschaffenen Figuren, die ausgeschnittenen und collagierten Fotostrecken, die kolorierten Zeichnungen, Gouachen und Aquarelle bis hin zu seinen Pastellen und Gemälden.
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