Mit der Präsentation von Jean Tinguelys MengeleTotentanz (1986) im neu gebauten Ausstellungsraum beginnt das Museum Tinguely eine Ausstellungsreihe mit jungen KünstlerInnen, die auf dieses späte Hauptwerk Tinguelys Bezug nehmen und sich mit seiner anhaltenden Aktualität auseinandersetzen. Den Auftakt macht Jérôme Zonder (*1974 in Paris), der zu den herausragenden Zeichnern seiner Generation zählt. Mit seinen grotesken
Bildfindungen, die sich an Hieronymus Bosch, Paul McCarthy oder Otto Dix orientieren, findet er einen Ausdruck für das Unsagbare menschlicher Abgründe und humanitärer Katastrophen der letzten 100 Jahre und verarbeitet sie zu zeitgenössischen ‚Danses Macabres‘.
Rund 40 Zeichnungen, ein grossformatiges Wandbild und eine skulpturale Konstruktion fügen sich zu einer Rauminstallation, die in direktem Dialog mit dem Mengele-Totentanz steht und vom 7. Juni bis 1. November 2017 in Basel zu sehen ist.
Bereits im Jahr 2016 war Jérôme Zonder im Museum Tinguely eingeladen, anlässlich der umfassenden thematischen Ausstellung ‚PRIÈRE DE TOUCHER – Der Tastsinn der Kunst‘ einen eigenen Raum einzurichten. Er präsentierte eine Reihe von Zeichnungen sich ergreifender Hände, sowie den grossformatigen, vierteiligen weiblichen Akt Autopsie de la jeune fille (2015). Der sinnliche Impuls der Wahrnehmung während des Aktzeichnens, der sich als Ausdruck graphischer Berührungsenergie auf dem Bildträger repliziert, setzte sich auf den Wänden, die ,all-over‘ mit Fingerabdrücken in Graphit bedeckt waren, fort.
Im Sommer 2017 realisiert Zonder im Museum Tinguely eine Einzelausstellung, die ihren Referenzpunkt in einem späten Hauptwerk Tinguelys findet, dem Mengele-Totentanz (1986). Die 14-teilige Maschinenskulptur wird in einem eigens gebauten, kapellenartigen Raum des Museums neu eingerichtet. Ihren Namen verdankt sie dem Hochaltar in der Mitte, der aus einer fast bis zur Unkenntlichkeit deformierten Erntemaschine für Mais der Marke
Mengele besteht, jener Firma, die die Familie des berüchtigten KZ-Arztes führte. Alle verwendeten Teile sind Relikte eines infernalischen Brandes, der den Bauernhof unweit von Tinguelys Atelier in Neyruz nahe Fribourg zerstörte. Das Thema des Totentanzes hat in Basel eine weit zurückreichende Tradition. Sie fand ihren Höhepunkt mit dem um 1450 entstandenen und seither vielfach zitierten und reproduzierten sogenannten Basler Totentanz auf der Innenseite der Umfassungsmauer des damaligen Dominikaner-Klosters.
Die Botschaft dieses Bilderreigens war eine mehrfache: Sie erinnerte an die Vergänglichkeit des Lebens und an die Gleichheit aller im Tode, nahm aber ebenso Gedankengut der sich entwickelnden humanistischen Idealen der Epoche auf. Die düstere, alle Sinne ansprechende Installation Tinguelys zusammen mit der Bildtradition des Totentanzes finden in den Bildwelten Zonders einen erstaunlichen und verstörenden Widerhall. Geschichten von menschlichen Grausamkeiten, von Nazi-Greueln, Vergewaltigungen, Genozid, von alltäglicher Gewalt gehören zu einem medialen Bildrepertoire, das wir gewohnt sind auszublenden. In Zonders Zeichnungen drängen sich diese verstossenen Bilder der Abgründe der Geschichte des 20. Jahrhunderts erneut in eine kritische Nähe, als Bildkonstrukte, die eine unausweichliche, makabre Präsenz entfalten.
Jérôme Zonders Arbeiten zeigen den Horizont zeichnerischer und motivischer Möglichkeiten, die als Grundlagen für die Verarbeitung emotionaler und brisanter Themen in seiner Arbeit herausragend sind. Das Zeichnen vollzieht sich in Analogie zum Händedruck, mit einer tastenden Berührungsenergie, der „Tastatur des Strichs“, wie sie Hartmut Böhme in Der Tastsinn im Gefüge der Sinne beschrieb. Die Empathie, die sich darin manifestiert, ist in Zonders Werk nicht auf den menschlichen Körper beschränkt. Mit höchster Präzision in der zeichnerischen Darstellung zieht er alle technischen Register, um mit der gleichzeitigen Verwendung von Kohle, Bleistift und Graphit auf unterschiedlichen Bildträgern die ganze Palette zwischen Schwarz und Weiss auszuschöpfen. So verbindet er auf einem einzigen Blatt eine grosse stilistische Bandbreite, indem er (Hyper-)Realismus, pointillistische Fingerzeichnung, Disegno, Kinderkritzelei und Cartoon kombiniert.
Zeichnen ist im klassischen Verständnis jenes Ausdrucksmittel, das in seiner Intimität dem Schreiben am meisten verwandt ist und konzeptionelle Prozesse, gedankliche Reflexionen oder einen assoziativen Automatismus am unmittelbarsten abzubilden vermag. Eine junge Generation von Zeichnern, zu denen Zonder gehört, führt diesen Prozess über den begrenzten Bildträger hinaus. So wie viele Werke als thematische und stilistische Collagen
wirken, so fügt Zonder einzelne Zeichnungen zu wandfüllenden Assemblagen zusammen.
Diese können sich zu architektonischen Räumen auswachsen, die untrennbar mit Erinnerungs- und Gedankengebäuden verknüpft sind und den Körper ebenso wie den Geist mit allen Sinnen adressieren.
Ihre Dringlichkeit entfalten Zonders Zeichnungen in als jeux d’enfants getarnten Hinrichtungsszenen – grotesken, alptraumhaften Collagen in der Manier von Otto Dix oder George Grosz – die uns zunächst vertraute Situationen wie das heimische Kinderzimmer anführen, nur um den Betrachter mit Szenerien der Gewalt umso heftiger zu konfrontieren. Oder wie im Falle der Bildserie Les chairs grises (2013) auf Grundlage jener furchtbaren Bilder aus den Konzentrationslagern der Nazis, bei welcher die dokumentarischen Fotografien des Gräuels nicht bloss technisch reproduziert, sondern mittels einer Spur von Fingerabdrücken gestaltet und nachvollzogen sind, um im Medium des Zeichnens das Nicht-begreifen-können zu thematisieren. Zonders hybride Bildwelten schöpfen aus einem Repertoire, welches das Individuelle mit dem Kollektiven zusammenführt. Er durchmischt diese Elemente in einem offenen schöpferischen Akt, der sich als Wechselspiel von Intuition, Orientierung am Gegenstand der Recherche, Art und Weise der Darstellung und deren Entwicklung konstituiert.
Dieses ‚Rezept‘, das dem Künstler ermöglicht, in die Bilder einzudringen, sie zu subjektivieren und eigene Bilderzählungen weiterzuentwickeln, hat seinen gedanklichen Kern in der andauernden Auseinandersetzung mit der Frage, was Bilder heute vermögen. Für einen Künstler wie Jérôme Zonder, der in seinem Denken Kulturpessimismus und Humanität verbindet, der über Krieg und Gewalt, Antisemitismus, die Zerstörung der Menschlichkeit oder die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft reflektiert, ist das Groteske als Stilmittel ein Verfahren, um die Widersprüche unserer Tage abzubilden. In seinen ‚zellulären‘ Bildern zeichnen sich Lachen und Morbidität, Sagbares und Unsagbares, Grauen und Komik, Lächerlichkeit und Bedrohung, Zierlichkeit und Monstrosität in ungekannter polygraphischer Akzentuierung ab.
Museum Tinguely
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