Mitte der 1950er Jahre entstand in Großbritannien der radikale Architekturstil des „Brutalismus“. Er zeichnet sich durch Sichtbetonwände und freiliegende Baumaterialien wie Metall, Stein und Ziegel aus. Heute verschwindet er zunehmend aus dem Stadtbild, denn nach und nach werden die zumeist nicht denkmalgeschützten Gebäude abgerissen. Gleichzeitig formieren sich Anhängergruppen – auch im Internet. Darunter ist z.B. die Facebook-Gruppe „The Brutalism Appreciation Society“ (dt. Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus), die sich für den Erhalt der städtebaulichen Zeugnisse aus den 1950er/1960er Jahren einsetzt und weltweit heute über 50.000 Mitglieder hat.
Die von Inke Arns kuratierte Ausstellung Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus zeigt 21 internationale künstlerische Positionen, die sich mit dem brutalistischen Baustil der Nachkriegsmoderne auseinandersetzen, sowie eine Auswahl von Beiträgen aus der namensgebenden Facebook-Gruppe.
Die 21 teilnehmenden Künstler_innen kommen aus elf Ländern: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kroatien, Österreich, Polen, der Schweiz, Spanien, der Tschechischen Republik und den USA. Viele der Künstler_innen werden zur Ausstellungseröffnung am Freitag, 7. April 2017, anwesend sein.
Neben künstlerischen Medien wie Skulpturen, Videos, Videoinstallationen, Klangkunst, Streetart und Fotografien wird es im Ausstellungsraum auch eine großflächige Graffitiarbeit des international bekannten Graffitikünstlers Darco FBI geben. Die Arbeit wurde vor Ort im HMKV entwickelt und ist bestimmendes Gestaltungselement der Ausstellung.
Ausführliche Darstellung
Prince Charles hat einmal gesagt, dass der Brutalismus in Großbritannien mehr zerstört habe als die Bombardierungen durch die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zu dieser zwar royalen aber doch auch launigen Bemerkung hat der „Brutalismus“ wenig mit Brutalität oder brutaler Architektur zu tun; vielmehr leitet sich der Begriff von Le Corbusiers Formulierung „béton brut“ (wörtlich: roher Beton) ab, dem französischen Ausdruck für „Sichtbeton“. Der Begriff „Brutalismus“ wurde 1953 von der britischen Architektin Alison Smithson geprägt und im Dezember 1955 durch Reyner Banham in seinem Aufsatz „The New Brutalism“ in der Architectural Review in der Fachöffentlichkeit lanciert.
Für den Brutalismus hält Banham in diesem Aufsatz drei zentrale Kriterien fest: 1. formale Lesbarkeit des Grundrisses, 2. klare Zurschaustellung der Konstruktion und 3.
Wertschätzung der Materialien „as found“ [als gegebene]. Banham ergänzt diese Aufstellung noch um eine notwendig präsente Haltung der Kompromisslosigkeit und Radikalität. Als erster brutalistischer Bau gilt die Schule im britischen Hunstanton von Alison und Peter Smithson (1949–1954); auch Bauten von Le Corbusier, vor allem das Kloster Sainte-Marie de la Tourette bei Éveux-sur-l’Arbresle (1953-1960) und die Unités d’Habitation in Marseille (1947-1952), Nantes (1950-1955) und Berlin (1956-1958) waren für den Brutalismus richtungsweisend. Der Baustil des Brutalismus setzte sich in den 1960er Jahren durch, blieb bis in die 1980er Jahre präsent und geriet ab dann vielfach in Verruf. Erst in den letzten zehn Jahren begann eine Phase der Wiederentdeckung, insbesondere angesichts von Abrissen oder entstellender Umbauten.
Warum Brutalismus jetzt?
Ausgangspunkt der Ausstellung Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus im HMKV ist die 2007 gegründete Facebook-Gruppe The Brutalism Appreciation Society (dt. Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus), die Liebhaber brutalistischer Architektur versammelt. Die Gruppe zählt heute weltweit mehr als 50.000 Mitglieder. Allein von Ende 2015 bis heute verdoppelte sich ihre Mitgliederzahl. Ihr Ziel formuliert sie selbst so: „As they start to disappear from our cities, this group is for anyone who appreciates buildings built in
this much maligned architectural style.“
Auch andere Soziale Medien wie zum Beispiel der Twitter-Account This Brutal House (@brutalhouse) oder der Tumblr-Account Fuck Yeah Brutalism (http://fuckyeahbrutalism.tumblr.com/) widmen sich dem radikalen Baustil. Aber wieso ist der Brutalismus heute in den Sozialen Medien überhaupt so populär? Raphael Dillhof formulierte es so: „Verwegen und kompromisslos, hart und meist in dramatischer Untersicht tauchen die Baumonster aus unverputztem Beton in den Timelines der Sozialen Medien auf.“ Laut Dillhof fungiert der Brutalismus dabei als „willkommener Gegenentwurf zur künstlich-durchtechnisierten Investorenarchitektur von Frank Gehry, Zaha Hadid und Co.“ Der Brutalismus sei eine Chiffre für das Authentische – gegen die kulturelle Überfeinerung. Der Lob des Betons ist zu verstehen als ein Statement für das Primitive, gerichtet gegen das Feindbild einer entfremdeten und entfremdenden Moderne. Gleichzeitig sei diese Popularität aber paradox, denn die vor allem vom Brutalismus propagierten (heute größtenteils gescheiterten) „kollektivistischen Wohn- und Lebensformen werden von der dem Individualismus frönenden Instagram-Generation eigentlich abgelehnt.“
Die Ausstellung ist inspiriert von den Aktivitäten der Facebook-Gruppe The Brutalism Appreciation Society – ist jedoch gleichzeitig ein signifikant größeres Folgeformat der außerordentlich erfolgreichen HMKV-Ausstellungen „Jetzt helfe ich mir selbst“ – Die 100 besten Video-Tutorials aus dem Netz (2014) und Digitale Folklore (2015). Diese beiden Projekte zeichneten sich dadurch aus, dass user-generated content, also von Nutzer_innen generierte Inhalte, ausgewählt und in einem spezifischen Ausstellungskontext gezeigt wurden. Die Ausstellung Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus besteht – im Gegensatz zu den beiden anderen Netzkultur-Ausstellungen – vorrangig aus künstlerischen Arbeiten. Diese machen den Hauptteil der Ausstellung aus. Daneben werden auch digitale Einträge aus der Facebook-Gruppe The Brutalism Appreciation Society präsentiert.
Inhaltliche Schwerpunkte der Ausstellung
In der Ausstellung fallen zunächst die künstlerischer Auseinandersetzungen mit existierenden brutalistischen Gebäuden ins Auge. Die österreichische Künstlerin Aglaia Konrad zum Beispiel untersucht gleich zwei Klassiker dieses Genres: Die von Fritz Wotruba erbaute Kirche der Dreifaltigkeit in Wien und die von Claude Parent und Paul Virilio gebaute Kirche Sainte-Bernadette du Banlay in Nevers. Auch Reto Müller beschäftigt sich mit der bunkerartigen Kirche von Parent und Virilio, stellt dieser aber ein brutalistisches Profangebäude gegenüber: das von Claude Parent entworfene Einkaufszentrum in Ris-Orangis. Heidi Specker portraitiert die Queen Elizabeth Hall im Londoner South Bank Centre, während Kay Walkowiak zu einem Klassiker des Brutalismus von Le Corbusier im indischen Chandigarh reist und die alltägliche Nutzung dieser ‚Wohnmaschine’ dokumentiert.
Tobias Zielony nimmt uns mit nach Neapel und Kiew: in Neapel zu den Betonbauten von Le Vele di Scampia, einer Hochburg der Camorra, und in Kiew zum „Institute of Scientific and Technical Information“, das an ein gerade gelandetes UFO erinnert. Niklas Goldbach reist in das futuristische Pariser Viertel ‚Front de Seine’ und filmt dort beunruhigende Szenen und Verfolgungsjagden. Freya Hattenberger & Peter Simon haben Sounds in der von Gottfried Böhm entworfenen brutalistischen Kirche St. Gertrud in Köln aufgenommen, während Jordi Colomer für „Anarchitektone“ in Barcelona, Bukarest, Brasilia und Osaka demonstriert.
Es finden sich in der Ausstellung auch spekulative Elemente – also Ideen und Phantasien, die Künstler_innen ausgehend von existierenden brutalistischen Strukturen entwickeln. Philipp Topolovac fielen im Prager Stadtbild die riesigen Lüftungsschächte der U-Bahn auf, die er auf Fotos dokumentierte. Vier der Lüftungsschächte wurden darüber hinaus zu Ausgangspunkten für architektonische Spekulationen: Der Künstler versuchte sich vorzustellen, wie die massiven Strukturen unterirdisch weiter verlaufen könnten. Heraus gekommen sind retrofuturistische Raumschiffe, die Topolovac als faszinierende Skulpturen präsentiert. Nicolas Moulin spinnt einen Plan des deutschen Architekten Herman Sörgel weiter, den dieser Ende der 1920er Jahren entwickelt hatte: Mittels eines riesigen Staudammprojektes (Atlantropa) an der Meeresenge von Gibraltar wollte dieser das Mittelmeer um mehrere hundert Meter absenken, um so einen neuen Kontinent, bestehend aus Europa und Afrika, zu schaffen. Moulin nennt diesen neuen Erdteil „Azurasia“ und entwirft für diesen eine neue brutalistische (Haupt-)Stadt. Für Ruben Woodin Dechamps & Oscar Hudson werden die brutalistischen Partisanendenkmäler im ehemaligen Jugoslawien zum Ausgangspunkt einer verrückten Geschichte: Sie interviewen in ihrem Film einen Mann, der behauptet, seit 30 Jahren Kontakt zu einer außerirdischen Zivilisation zu haben. Und Alekos Hofstetter ist davon überzeugt, dass nichts so schnell altert, wie die Vorstellung von Zukunft – auch in der Architektur. In seiner Arbeit setzt er sich mit einer „inzwischen obsolet gewordenen Beton-Zukunft“ auseinander.
Brutalismus und sozialistische Plattenbauten sind konzeptuell gar nicht so weit voneinander entfernt – darauf verweisen in der Ausstellung die Arbeiten von Andrea Pichl, Darko Fritz und EVOL. Andrea Pichl verwendet ein architektonisches Detail aus der ersten, zwischen 1947- 1952 gebauten ‚Wohnmaschine’ von Le Corbusier in Marseille, um Fertig-Betonbauteile, Fotos von Plattenbauten aus dem usbekischen Taschkent und einzelne, aus leerstehenden Gebäuden abmontierte „Türen und Fenster aus der Platte“ anzuordnen. Darko Fritz zeichnet mit Hilfe von Archivaufnahmen, Architekturmodellen, alten Fotografien und Computeranimationen die Expansion der kroatischen Hauptstadt Zagreb in den 1960er und 1970er Jahren mit einer Mischung aus Witz und Ironie nach. Und EVOL überrascht mit einer kompletten Miniatur-Plattenbausiedlung auf sechs Europaletten. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass es sich um Porenbetonsteine handelt, die der Berliner Streetart-Künstler mit kleinen Fenstern beklebt hat.
Einige Arbeiten in der Ausstellung beziehen sich nicht direkt auf den Architekturstil, sind aber in ihrem Umgang mit dem Material und Medien nah am Materialverständnis des Brutalismus: Martin Kohout hat mit seinem Mobiltelefon eine Art Skateboarding-Video aufgenommen: Es ratscht mit dem Gerät über Geländer, schrammt an Wänden entlang, rattert über Asphalt und Mauern, bis die Kamera ihren Geist aufgibt. Der Sound macht aus dem visuellen Erlebnis ein regelrecht physisches. Bettina Allamodas Arbeit, die sie speziell für den Ausstellungsraum des HMKV entwickelt hat, besteht aus einer langen Stoffbahn, die sie straff zwischen einige der tragenden Säulen gespannt hat. Die französische Künstlerin Anne-Valérie Gasc ermöglicht uns eine ungewöhnliche Perspektive auf den üblichen Umgang mit ungeliebter Architektur: Sie platziert im Inneren von zum Abriss freigegebenen Gebäuden Kameras, die die Detonation aus nächster Nähe filmen. Eine im wahrsten Sinne des Wortes verstörende Erfahrung.
Und schließlich werden Strategien der Aneignung präsentiert, die fast immer in Zusammenhang mit massiver Betonarchitektur auftauchen: Skateboarding und Graffiti. Kay Walkowiak lässt den spanischen Profi-Skater Kilian Martin über minimalistische Skulpturen skateboarden, während Tobias Zielony die Jugendlichen beobachtet, die in der neapolitanischen Hochhaussiedlung Le Vele di Scampia abhängen. Der Graffitikünstler Darco FBI hat im Ausstellungsraum fünf große Bilder gesprüht, die selbst wiederum Elemente von brutalistischen Architekturen aufnehmen.
Kuratiert von Inke Arns
Teilnehmende Künstler_innen:
Bettina Allamoda (US/DE), Jordi Colomer (ES), Darco FBI (DE/FR), EVOL (DE), Darko Fritz (HR), Anne-Valérie Gasc (FR), Niklas Goldbach (DE), Freya Hattenberger & Peter Simon (DE/PL), Alekos Hofstetter (DE), Martin Kohout (CZ), Aglaia Konrad (AT/BE), Nicolas Moulin (FR/DE), Reto Müller (CH), Andrea Pichl (DE), Heidi Specker (DE), Philip Topolovac (DE), Kay Walkowiak (AT), Ruben Woodin Dechamps & Oscar Hudson (UK), Tobias Zielony (DE), Jordi Colomer, Anarchitekton (Bucharest) 2003
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