Die Sprache stand schon immer an vorderster Front sozialer und politischer Unruhen. Seit jeher wurden Worte und freie Rede durch herrschende Kontrollsysteme manipuliert. Angesichts des weltweiten Aufstiegs rechtsextremer, libertärer und autoritärer Regime und der zunehmenden Zensur dissidenter Stimmen scheint es wichtiger denn je, die Bedeutung von Sprache als Werkzeug zur Infragestellung vorherrschender Narrative und zur Förderung des Dialogs hervorzuheben. Die Poesie, die am Rande des herrschenden Diskurses und in destillierter Form agiert, setzt Worte mit Präzision ein – eine Wahrheitserkenntnis, die als Folie dient, durch die das Unaussprechliche sagbar wird. Die Ausstellung Let Us Believe in the Beginning of the Cold Season bringt neun Filme von Künstler*innen unterschiedlicher Generationen und Ausgangspunkte zusammen und erkundet die Verbindungen zwischen Poesie und bewegten Bildern, mittels derer die Komplexität aktueller und historischer Realitäten ergründet werden.
Let Us Believe in the Beginning of the Cold Season ist nach dem gleichnamigen Gedicht der iranischen Filmemacherin und Dichterin Forugh Farrokhzad (1934–1967) von 1965 betitelt, deren Texte – trotz Kontroversen und Zensur – versuchten, den Sorgen und Sehnsüchten iranischer Frauen eine Sprache zu verleihen und literarische sowie soziale Konventionen neu zu definieren. Konzipiert als eine Serie von Filmvorführungen, ist jede Woche der Ausstellung einer individuellen Künstler*in gewidmet, deren Werk in einem kontinuierlichen Loop im Ausstellungsraum des Portikus präsentiert wird.
Das Programm beginnt mit Cecilia Vicuñas einflussreichem Video What is Poetry to You? (1980), in dem die Künstlerin, die sich damals während der chilenischen Diktatur im Exil in Bogotá befand, Passant*innen über ihre persönliche Beziehung zur Poesie interviewt, und so das transformative Potenzial von Lyrik im Leben der Menschen aufzeigt. In ähnlicher Weise verleiht Trinh T. Minh-has Film Surname Viet Given Name Nam (1989) den Stimmen Gehör, die gewöhnlich nicht vernommen werden. Mit Hilfe von Archivmaterial, Poesie, Liedern und Interviews zeichnet sie ein Bild der historischen und zeitgenössischen Rollen, die vietnamesischen Frauen auferlegt wurden und werden. Das Zusammenspiel der zeitlichen Ebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägt Alexander Kluges Filmessay Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (1985), der einen vielschichtigen Blick auf das Nachkriegsdeutschland wirft. In Aimé Césaire, le masque des mots (1987) zeichnet Sarah Maldoror ein Porträt des martinikanischen Dichters, in dem sie seinen Einfluss auf die literarische Bewegung der Négritude, die Auswirkungen seines politischen Engagements und seinen Kampf gegen Rassismus beleuchtet. Die Verbindungen zwischen Poesie und Aktivismus werden ebenso in Cana Bilir-Meiers Videos SEMRA ERTAN (2013) und Zwischenwelt (2022) deutlich. Beide handeln von den Coping-Strategien und gelebten Erfahrungen in einer xenophoben Gesellschaft, deren Auswirkungen sich in einer rassifizierten Erinnerungspolitik niederschlagen. Derweil wird die Gewalt unsichtbarer Kontrollkräfte in Maryam Tafakorys Video Nazarbazi (2022) thematisiert, einer Collage aus Texten und gefundenen Bildern, die die symbolisch aufgeladenen Interaktionen zwischen Männern und Frauen im postrevolutionären iranischen Kino darstellt. In einer Kombination aus Archivmaterial, geschriebenen Worten und 16-mm-Aufnahmen behandelt Sky Hopinkas Film Sunflower Siege Engine (2022) die komplexe Geschichte indigener Communities in den USA durch kollektive und persönliche Erzählungen. Luiz Roques aufwendig angelegte Filmkompositionen O Novo Monumento (2013) und XXI (2022) stellen queere Kultur in Dialog mit urbanen und ländlichen Landschaften in Südamerika, um traditionelle Vorstellungen von Monumentalität, Identität und Körperpolitik zu hinterfragen. Zu einer Zeit, als seine Sehkraft durch AIDS beeinträchtigt war, versuchte Derek Jarman mit seinem Film Blue (1993), in dem poetische Texte vor dem Hintergrund einer unveränderlichen blauen Leinwand gelesen werden, eine offene und eindringliche Darstellung seiner Krankheit und seines bevorstehenden Todes zu vermitteln.
In einer Verflechtung aus historischen Aufzeichnungen und zeitgenössischen Erzählungen geben die Werke der Künstler*innen der Sprache in einer Weise den Vorrang, die es ihr ermöglicht, zugleich der poetischen Kraft der Bilder zu weichen. Inspiriert von Farrokhzads bildgewaltigen Versen, die Trauer und Hoffnung miteinander verbinden, lädt Let Us Believe in the Beginning of the Cold Season dazu ein, Sprache als Katalysator für kollektive und persönliche Veränderungen zu erwägen.
Cana Bilir-Meier, Sky Hopinka, Derek Jarman, Alexander Kluge, Sarah Maldoror, Trinh T. Minh-ha, Luiz Roque, Maryam Tafakory, Cecilia Vicuña.
PORTIKUS
Alte Brücke 2 / Maininsel
D – 60594 Frankfurt/Main
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